Sechszehntes Kapitel

[289] Reich an einer Menge von neuen Eindrücken und Erfahrungen, und voll Verlangen, meinen Vater wiederzusehen, kehrte ich in der Mitte des September, nach einer Abwesenheit von fünfzehn Monaten in meine Heimath zurück, und das Zuhausesein umfing mich mild und erwärmend wie Frühlingshauch nach kalten Tagen.

Des Morgens zu wissen, daß der Vater da sei, ihn am Tage erwarten zu können, zu sehen, zu fühlen, daß er Freude an mir habe, daß meine Erzählungen ihn gut unterhielten, an seinem Tische zu sitzen, von seinem Brode zu essen, Alles was ich bedurfte und genoß, von seiner Hand zu empfangen, die es so liebevoll gewährte, Abends noch an seinem Bette zu sitzen und ihm gute Nacht sagen zu können, mit einem Worte wieder ein Kind vom Hause, sein Kind zu sein, beglückte mich sehr. Und dazwischen war es mir bisweilen ganz befremdlich, daß ich gar kein Geld ausgab, daß ich nur zu fordern brauchte, um nicht nur alles Nöthige, sondern auch das Wünschenswerthe und Ueberflüssige zu erlangen. Ich hatte nicht nöthig, ängstlich zu berechnen, ob ich Dies oder Jenes auch thun dürfe, ich hatte nicht nöthig, fortwährend daran zu denken, ob meine Ausgaben auch mit meinen Ein nahmen in[289] gleichem Verhältniß ständen. Die Sorglosigkeit ließ mich einige Tage angenehm ausruhen, die Nähe des Vaters, das Vaterhaus erquickten mich wahrhaft; und doch konnte ich es mir nach wenig Tagen auch bei dem besten Willen nicht verbergen, ich fand mein altes Vaterhaus nicht wieder. Es war Alles nicht mehr wie sonst, aber ich hätte nicht sagen können, was denn eigentlich in den fünf Viertel Jahren anders geworden sei.

Ich wurde, ohne recht zu wissen weßhalb, ganz traurig, wenn ich mich in einer der Stuben allein befand; wennschon Vieles hübscher, eleganter geworden war als zuvor. Meines Vaters Verhältnisse rundeten sich immer mehr ab. Wir brauchten seit den letzten Jahren weit weniger für das Nothwendige des täglichen Lebens, es konnte also mehr für die Annehmlichkeit desselben und für die Ausschmückung des Hauses geschehen, das von den Schwestern ganz in dem Sinne und mit der Sauberkeit unserer Mutter gehalten wurde. Aber es war überall so still! So still in der Wohnstube, so still in der Eckstube, so still auf den Fluren und Treppen!

War mir die Familie schon vor dem Jahre klein erschienen, so dünkte sie mich das jetzt nur noch mehr. Statt der acht Kinder, welche sonst um die Eltern versammelt am Eßtisch gesessen hatten, waren wir nur noch unserer Viere bei dem Vater, denn ich hatte die Schwester, welche ich in Franzensbad gepflegt, nicht mit zurückgebracht, weil man sie im nächsten Sommer noch eine neue Kur brauchen lassen, und ihr den strengen Königsberger Winter ersparen wollte. Die große Wohnstube, in welcher wir immer zu vierzehn Personen am Tische gewesen, war für[290] uns zu groß geworden, und man hatte sich daher neuerdings eines der andern Zimmer zur Wohnstube eingerichtet. Die Zimmer meiner Brüder standen schon seit Jahren leer, die Etage, welche meine Mutter zuletzt inne gehabt hatte, war an eine fremde alte Dame vermiethet worden; auch meine Hangelstube hatte leer gestanden, und ich – ich konnte mir das nicht wegläugnen, und eine gewisse Wehmuth darüber nicht von mir bannen, ich war selbst nur noch als ein Gast im Vaterhause, wurde nur als ein Gast, wenn auch als ein sehr willkommener betrachtet.

Die Meinen freuten sich Alle, Alle, meiner Wiederkehr. Sie hatten in meiner Abwesenheit empfunden, daß ihnen durch meine Entfernung doch das belebende Element verloren gegangen sei, und wie ich früher mit meinen Erzählungen und Einfällen oft Heiterkeit verbreitet hatte, so gab es auch jetzt bisweilen des Lachens kein Ende, wenn ich zu berichten anhub, was ich gesehen und gehört. Mein Vater saß dann sichtlich vergnügt, und still in sich hineinlachend, auf dem einen der beiden Ecksophas nahe am Ofen, darüber scherzend, welch ein dankbares Publikum ich an den Meinen hätte, aber es überraschte mich, daß er so viel bei uns im Zimmer war, daß er so oft auf dem Ecksopha saß. Und daß er die Nähe des Ofens suchte, daß er gelegentlich über Kälte in den Stuben klagte, war mir so fremd an ihm. Ihn hatte sonst nie gefroren. Wenn wir uns einmal über Kälte beschwert, hatte er uns seine lieben, warmen Hände hingereicht, und lachend gesagt: »Warum friert mich nie?« – Jetzt hatte er öfter kalte Hände, jetzt rühmte und liebte er die Wärme der Zimmer.[291]

Er schien mir ganz auffallend gealtert zu haben, seit ich ihn vor fünf Monaten in Berlin zuletzt gesehen. Ich fragte die Schwestern, sie theilten meine Besorgniß, meinten aber, der Vater wäre schon im letzten Winter verändert gewesen, und habe sich nur in Berlin erfrischt gezeigt. Ich fragte den Hausarzt, auch er fand den Vater verändert, vertröstete mich jedoch damit, daß das Alter sich bei dem Einen früher, bei dem Andern später einstelle, ohne daß im erstern Falle einer besondern Befürchtung Raum zu geben sei; und als ich mich endlich mit dringendem Bitten und Forschen an den Vater selber wendete, lachte er mich aus. »Nun Du für Dich nicht mehr hypochondrisch bist, wirst Du es für mich!« sagte er neckend, »laß mich damit aber ungeschoren. Mir fehlt Nichts als höchstens Sorgen. Ich habe sie mein Lebelang gehabt, nun ich sie los werde und weniger zu thun habe, weiß ich zuweilen nicht, was ich machen soll, und werde müde von dem vielen Lesen!«

Es lag darin etwas Wahres, aber es erklärte den Zustand doch nicht, wie ich wünschte. Von materiellen Sorgen war der Vater wesentlich befreit. Er sprach mit uns gelegentlich sehr heiter davon, wie er allmählig seine Grundstücke verkaufen, sein Vermögen realisiren, nach Berlin ziehen werde, aber er machte sich dafür mehr noch als früher Sorge darüber, daß keine seiner Töchter verheirathet war, und selbst die guten Nachrichten, welche man von Moritz erhielt, erheiterten ihn nicht dauernd. Er hatte eben mit der alten Spannkraft offenbar auch die alte Leichtlebigkeit verloren.

Die Schwestern thaten für ihn, was sie konnten und[292] wußten. Alle die Sorgfalt, welche früher der Mutter zugewendet worden, war jetzt auf ihn allein gerichtet. Alles hing an seinen Augen, und doch wünschte ich für ihn oftmals die Mutter zurück, doch kam mir bisweilen der Gedanke, daß es vielleicht gut für ihn gewesen sein würde, wenn er sich wieder verheirathet hätte. Töchter ersetzen einem Manne die Frau nicht. Der Mann, der an eine ihn befriedigende Ehe, an die Liebe einer Gattin, an die Hingebung eines Wesens gewöhnt ist, das keine Zukunft außer ihm hat, vermißt dies Eigenste ohne alle Frage immer und immer wie der! Ich machte mir für mich selbst gar keine Illusion darüber, und ich war und blieb innerlich traurig, so sehr mein Vater sich an mir freute. Ich dachte immerfort an seinen Tod, und mußte mir das inzwischen doch als eine thörichte Besorgniß vorhalten. Aber die ruhige Zuversicht, mit welcher ich auf ihn und auf mein Vaterhaus, wie auf das Bestehen der Erde, wie auf Etwas hingeblickt hatte, das immer gewesen war und darum auch immerfort da sein würde, war von mir gewichen.

Ich hatte mich bis dahin zu dem Vaterhause wie ein Zugvogel zu seinem alten Neste verhalten. Ich war hin und hergewandert, und hatte mich immer darauf verlassen, daß der alte gute Eichbaum auf dem alten Platze festgewurzelt dastehen, und mir in seinen schützenden Armen mein Heimathnest bewahren würde, so oft es mich trieb, unter seinem sichern Dache Ruhe und Zuflucht zu suchen. Jetzt fiel es mir oftmals ein, der Baum könne gefällt werden, ich könne einmal die Stätte leer finden, auf der er gestanden und sich über mich gewölbt, und[293] weil der Gedanke mir das Herz zusammenschnürte, fragte ich mich dann: »Aber warum grade Er? warum Er? der noch so stattlich dasteht und noch lange nicht an das Maaß der Jahre angelangt ist?«

Indeß je länger ich zu Hause verweilte, um so mehr dünkten mich die Befürchtungen, welche ich zu Anfang gehegt hatte, unbegründet oder doch mindestens übertrieben. Der Vater war stets wohlauf, fing sich nach meiner Meinung wieder zu erholen an, und ich sagte bisweilen scherzend: »Ich bin wie ein Stahlbad für den Vater und für Euch Alle, ich mache Euch munterer!«

Es wurde mir zu Liebe und zu Ehren Gesellschaft eingeladen. Die alten Bekannten und meine besondern Freunde kamen wieder häufiger, das Haus belebte sich auf's Neue, und der Vater hatte das ersichtlich gern. Die Neigung und Theilnahme, welche man mir bewies, machten ihm Vergnügen, es freute ihn, wenn man mit mir von meinen Arbeiten sprach, wenn Männer, die er hoch hielt, mein Urtheil gelten ließen. Ich lebte mich dadurch bald wieder in der Heimath ein, und hatte mich eigentlich nie so vollkommen zufrieden in derselben gefühlt; aber ich machte dennoch die Erfahrung, wie gut es sei, daß die Todten nicht wiederkommen können.

Wo ein Mensch seine Stelle verläßt, treten aus Nothwendigkeit Andere für ihn ein, die Lücke, welche er unersetzlich offen gelassen zu haben wähnt, füllt sich aus, und wie nützlich er einmal gewesen, er findet selten für sich noch Etwas zu thun, wenn er zurückkehrt. Auch ich war im Wesentlichen in unserm Hause entbehrlich geworden. Meine Schwestern ersetzten mich in allem Materiellen,[294] ich hatte mich für alle Theile dessen nur zu freuen, und dennoch that's mir wehe. Das war die Ungenügsamkeit des Menschenherzens, das war ein Suchen nach der Quadratur des Zirkels. Wer frei sein will, muß nicht unentbehrlich zu sein verlangen; wer sich selber leben will, muß es sich gefallen lassen, daß man sich auch ohne ihn einrichtet. Aber solche Erfahrungen sind nicht leicht zu machen.

Eine andere Erfahrung stand mir an unserm frühern Hausgenossen, an unserm Freunde Crelinger bevor. Er hatte mir in dem Jahre öfter und stets mit der alten Zuneigung geschrieben, er war auch der Erste unserer Freunde gewesen, der herbei gekommen war, mich zu begrüßen, und ich hatte ihn in den wünschenswerthesten Verhältnissen wieder gefunden. Er hatte große Geltung, einen bedeutenden allseitigen Einfluß erlangt, er machte sich ein Vermögen, lebte und wohnte mit der Eleganz, an welche er früh gewöhnt gewesen, und war offenbar sehr zufrieden mit seiner Lage. Geistreich und liebenswürdig wie immer, bewies er mir Freundschaft und Aufmerksamkeiten aller Art, aber ich fühlte es mit Schmerz, er hatte zu mir nicht mehr seinen alten Ton voll offenem Vertrauen.

Ich konnte das nicht ertragen, gestand ihm das und bat ihn mir zu sagen, was ich gethan hätte, sein Zutrauen zu verscherzen. Anfangs wich er mir aus, dann sagte er einmal, als wir eine Weile schweigend bei einander gewesen waren, ganz urplötzlich: »Ich möchte wohl wissen, was Sie innerlich jetzt beschäftigt!«

Ich verstand dies Verlangen nicht. »Was soll mich[295] denn beschäftigen außer meiner Arbeit, von der ich Ihnen ja gesprochen habe?« versetzte ich.

»Ich weiß es nicht!« wiederholte er, »aber Sie haben sicherlich wieder irgend Etwas, was Sie für sich selbst behalten, was Sie uns zu verbergen für gut befinden!«

»Wie kommen Sie auf diesen Einfall?« rief ich lachend aus, »Sie, denke ich, könnten es am Besten wissen, daß ich aus meinem Denken und Empfinden eben keine Geheimnisse zu machen pflege.«

»Früher habe ich das allerdings geglaubt,« sagte er bestimmt und ernsthaft, »seit ich aber die Erfahrung gemacht habe, daß Sie mit dem Anschein völliger Offenheit unter Ihren nächsten Freunden leben, und ihnen dasjenige verbergen konnten, was Ihr eigentliches Leben ausmachte, bin ich anderer Meinung geworden. Ich habe Sie täglich gesehen, täglich viel mit Ihnen verkehrt, und Sie haben Romane geschrieben, sind damit in die Oeffentlichkeit getreten, ohne daß ein Wort, eine Aeußerung die innern Erlebnisse kund gaben, welche jene Thatsachen Ihnen veranlaßt haben müssen. Das setzt eine Kraft des Willens und des Insichberuhens voraus, die ich bewundre, die mir aber, ich bekenne Ihnen das ganz ehrlich, unheimlich ist. Wo man den Grund nicht sieht, hat man die rechte Sicherheit nicht mehr!«

Ich war auf das Höchste betroffen und betrübt, denn es gab wenig Menschen, für welche meine Freundschaft ernster, zu denen mein Vertrauen fester gewesen wäre, und die sich mir persönlich zuverlässiger bewährt hatten, als eben dieser Mann; und doch hatte ich ihm Nichts zu erklären, Nichts zu antworten, als daß mein Vater mir[296] verboten, von meinen dichterischen Arbeiten zu sprechen, und daß ich ihm natürlich hätte gehorchen müssen.

»Ich weiß das,« versetzte er, »und es ist sehr schön und tugendhaft von Ihnen, daß Sie Ihr Wort gehalten haben; aber es giebt viele Fälle, in denen die Sünde menschlicher, liebenswürdiger als die Tugend ist. Man vergiebt auch weit leichter eine aus dem Drange des Herzens entsprungene Schwäche, als man sich von einer so auf sich selbst gestützten Gewissenhaftigkeit in Erstaunen setzen läßt.«

Der Ausspruch, der aus der innersten Wesenheit unseres Freundes hervorgegangen war, that mir eben so wehe als Unrecht; denn Crelinger bedachte nicht, daß mein Vater kein Verehrer der liebenswürdigen Schwächen war, und sicherlich sich nicht geneigt gefunden hätte, mir eben in diesem Falle eine Uebertretung seines Gebotes zu Gute zu halten. Er bedachte auch ferner nicht, daß man frei sein muß, um frei nach dem Drange seines Herzens handeln zu können. Abhängigkeit macht bedächtig und lähmt den Erguß der Empfindung. Freundschaft und Liebe kommen deßhalb auch nur unter möglichst unabhängigen und geistig freien Menschen zu ihrer höchsten Blüthe und Entfaltung.

Diese kleine Verstimmung zwischen uns ging indessen bald vorüber. Der männliche Stolz und die Eitelkeit, welche bei solchen Mißverständnissen unter Freunden verschiedenen Geschlechtes, oft ohne daß man sich dessen bewußt ist, die eigentlichen Friedensstörer machen, fanden sich in dem erneuten Beisammensein bald wieder beruhigt, denn der welterfahrene Mann hatte wieder reichlich Gelegenheit,[297] sich mir überlegen zu fühlen. Er gewann mich schnell wieder lieb wie früher, da er mich nicht mehr zu bewundern brauchte, und ich war damit sehr wohl zufrieden.

Aehnlich, aber viel heiterer als diese Erfahrung mit unserm Freunde, war die Bemerkung, welche ich an einigen von den Frauen meines Umgangskreises zu machen hatte. Ihnen war ich, so lange sie mich auch kannten, mit einem Male zu einem Gegenstande der Neugier geworden. Sie wunderten sich über mich, nur in anderm Sinne wie unser Freund. Sie wunderten sich über die von mir erschienenen Bücher, wie über das Bekanntwerden einer neuen Verlobung, die sie nicht vorausgesehen hatten; sie wunderten sich, daß sie mir gar Nichts angemerkt, und sie wunderten sich eigentlich über Alles und immerfort, so lange ich zu Hause war.

Die Eine wunderte sich, daß ich hätte Bücher schreiben können, da ich doch eine gute Wirthin sei; die Andern darüber, daß sie gar nicht gesehen, wie viel ich geschrieben, während sie mir doch gegenüber gewohnt. Diese war ganz erstaunt, daß ich mich aller früheren Verhältnisse – ich war die Ewigkeit von fünf Viertel Jahren von Hause entfernt gewesen – noch so deutlich erinnerte, Jene war noch viel erstaunter, wenn ich mich irgend eines Dienstmädchens nicht erinnerte, welches sie vor meiner Abreise in ihrem Hause gehabt hatte. »Mein Gott! Sie nähen und flicken noch?« rief die Eine, wenn sie mich bei solcher Arbeit fand. »Nun freilich, zum Nähen und Stricken lassen Sie sich nicht mehr herab!« meinte die Andre, wenn ich einmal zufällig müßig am Theetisch saß. Und bei[298] alle dem Verwundern wunderte ich mich darüber, wie die fremde Meinung, für welche ich früher eine überaus große Empfindlichkeit gehabt, im Kleinen wie im Großen, im Geringfügigen wie im Bedeutenden, ihren Einfluß auf mich zu verlieren begann. Ich hatte ein eigenes selbstständiges Dasein, eigene selbstständige Zwecke gewonnen, wußte, was ich wollte und sollte, und auf welchem Wege ich mein Ziel zu suchen hatte; und wer das weiß, wird mit dem Urtheil der Leute gar bald fertig.

Man fand im Allgemeinen, daß ich zum Vortheil verändert, daß ich milder geworden sei.

Zu Hause lebte ich gute Tage. Ich hatte keine Störung irgend einer Art und konnte arbeiten nach Herzens Lust. Früher hatte der Vater es geschehen lassen, wenn ich schrieb, jetzt freute es ihn. Er kam bisweilen mitten in seinen Geschäftsstunden aus dem Comptoir herauf, setzte sich in meiner Hangelstube auf das Sopha, und fragte: »Nun was machst Du denn? kommst Du vorwärts?« – Er stand dann wieder auf, sah mir über die Schulter in das Blatt, und wendete sich mit einem lächelnden: »Wo Du das Zeug nur Alles hernimmst!« von mir ab, um wieder an seine Geschäfte zu gehen.

Ich vertiefte mich denn auch recht mit Genuß in meinen Roman, der mir um seines Stoffes, wie um der einzelnen Gestalten willen, immer mehr in das Herz wuchs. Es handelte sich in demselben um die sittliche Berechtigung der Ehescheidung, wenn die Ehe aufgehört hat, eine Ehe im höhern Sinn des Wortes, das heißt: die durch gegenseitige Liebe und Werthschätzung nach allen Seiten förderliche Verbindung der Eheleute zu sein.[299]

In dem Roman »Clementine« hatte ich darzuthun versucht, daß eine auf gegenseitige Achtung begründete Ehe selbst dem Wiedererwachen einer frühern und berechtigten Liebe nicht geopfert werden dürfe. Jetzt wünschte ich es in dem Roman »Eine Lebensfrage« zu beweisen, daß die große Anzahl von Ehen, welche ohne innere Nothwendigkeit geschlossen werden, nur zu häufig den Keim zu einer unheilvollen Entwicklung in sich tragen; und wie das eheliche, auf die bloße Gewohnheit und die kirchliche Erlaubniß begründete Zusammenleben von Mann und Weib eine Unsittlichkeit wird, wenn dieser Verbindung die Liebe abhanden gekommen ist.

Für einen Deutschen ist es aber fast unmöglich, das Thema von den sittlichen Zerwürfnissen innerhalb der Ehe zu durchdenken und abzuhandeln, ohne sich dabei der Wahlverwandtschaften zu erinnern, ohne sich mit seinem Für und Wider an sie anzulehnen; und nach der Schilderung, welche ich in diesen Blättern von dem Eindruck gegeben habe, den jene große Dichtung in den verschiedenen Zeiten meiner Jugend auf mich gemacht, war es natürlich, daß auch ich mich auf ihren Grund und Boden zurückzog, um meine Sache innerhalb ihres Bereiches zu verfechten.

So hatte ich denn im ersten Bande der Lebensfrage eine Unterhaltung eingewoben, in welcher es sich um die oft erörterte Frage handelte, ob die Tendenz der Wahlverwandtschaften eine der Ehe günstige oder ungünstige, ob sie demnach eine im Sinne der bestehen den Moral und Sittengesetze sittliche oder unsittliche sei, und ob und welche Sünden in dem Romane begangen werden.

»Verbrechen werden allerdings in den Wahlverwandtschaften[300] begangen!« sagt Alfred, der Held meines Romans. »Daß Eduard aus eigensinniger Laune auf eine Verbindung mit der einst geliebten Charlotte besteht, daß diese, ganz gegen ihre bessere Ueberzeugung, aus Eitelkeit nachgiebt, das ist das erste Verbrechen. Wenn dann die verständige Charlotte den Hauptmann, Eduard die holde Ottilie liebt, so folgen sie nur dem Gesetz der Natur, die Ungleiches trennen, Zusammengehörendes verbinden will. Das fühlen Alle; und hier tritt der Fall ein, in dem die Trennung einer Ehe, wie ich es nannte, zu einer hohen sittlichen That wird. Aber solche Thaten fordern Muth, fordern ein großes, sittliches Bewußtsein. Dieses hat keiner von Allen, die es haben müßten. Von dem Kinde Ottilie sind sie nicht zu verlangen. Charlotte hat die Einsicht, aber ängstliche Scheu vor dem Tadel der Welt, vor großem Aufsehen hält sie zurück. Der Hauptmann schweigt aus falschem Stolz, Eduard giebt nach aus kleinlicher Schwäche. Das sind die Verbrechen, die Sünden, welche in dem Roman begangen werden, das liefert sie Alle in die Hände der vergeltenden Nemesis, die hier, wie in der antiken Tragödie, furchtbar waltet.«

»Ich stimme Dir ganz bei,« sagte der Präsident, »und habe selbst oft gestrebt, Therese für diese Ansicht zu gewinnen. Ich wüßte kaum eine andere Dichtung, in der diese Idee so rein und vollendet ausgesprochen wäre.«

»Denken Sie nur,« rief Alfred, »Ottilie die Sanfte, Hingebende selbst, muß das Werkzeug werden zum Tode des Kindes, das aus der verbrecherischen Umarmung der Gatten entsprang. Sie stirbt verzweifelnd, Eduard folgt[301] ihr nach. Charlotte steht einsam zwischen den Gräbern aller Derer, die sie einst liebte; durch diese Gräber für immer von dem Hauptmann getrennt. Ihr wird das schwerste Loos, zur Strafe dafür, daß sie es gewesen ist, welche den Fluch bannen konnte, und aus selbstischen Rücksichten das Zauberwort verschwieg.«

Soweit jenes Gespräch, das ich nur in der Absicht hierhersetze, um den Standpunkt zu bezeichnen, auf dem ich mich in jener Zeit befand, und die Ueberzeugung, aus welcher mein Roman entsprungen ist.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, einen Abriß meiner frühern Arbeiten zu geben, oder ihre Eigenschaften zu beweisen und ihre Mängel zu entschuldigen. Sie sind fertig, sind da, die Kritik hat sie beurtheilt, das Publikum sie kennen gelernt. Mich haben sie gefördert, denn sie haben mich immer und überall zum ernstesten Nachdenken veranlaßt, sie haben meine Ueberzeugungen geklärt und festgestellt, und wenn ich so weit gekommen war, bin ich immer auch bemüht, und ist es mir ein unabweisliches Bedürfniß gewesen, dasjenige im Leben und in der That zu behaupten, was ich in der Dichtung als meine Ueberzeugung ausgesprochen hatte.

Ich habe daher in diesen Memoiren nur den Beruf, wenn es sich so fügt, über die Art meines Schaffens und über die Entstehung der einzelnen Gestalten, eine gelegentliche Auskunft für Diejenigen zu geben, welchen dieselben etwa lieb geworden und lebendig geblieben sind, und ich habe hauptsächlich den Zusammenhang zwischen meinem Leben und meinem Dichten zu erklären, wo dieser in ungewöhnlicher Weise in meinen Arbeiten vorhanden[302] zu sein scheint, wie das bei der Lebensfrage und meinem persönlichen Lebenswege der Fall ist. Indeß als ich im Jahre vierundvierzig in der friedlichen Stille meiner kleinen Stube mit Seelenruhe und Behagen an meinem Romane arbeitete, war ich weit davon entfernt zu ahnen, daß ich Verhältnisse erfand, Schmerzen und Leiden darstellte, welche ich in weit höherem Maaße selbst zu durchleben haben sollte; daß ich die Freiheit der Selbstbestimmung vertrat, die ich einst für mich in Anspruch zu nehmen genöthigt sein sollte, ja daß es mir beschieden sein würde, mich schon ein Jahr nach dem Erscheinen meines Romanes, als Mitleidende in den Seelenkämpfen zu befinden, welche durch die Trennung einer nicht mehr glücklichen und darum nicht mehr aufrecht zu erhaltenden Ehe, veranlaßt wurden, durch deren Scheidung sich mein jetziges Dasein mit seinem Frieden und mit seinen Freuden aufgebaut hat.

Ich habe, wie man gelegentlich wohl geglaubt und gegen mich behauptet hat, in der Lebensfrage durchaus nicht »für Haus und Hof« gestritten; ich habe nach keinem Portrait oder Vorbilde gearbeitet, mich zu meinem Stoffe so objektiv als möglich verhalten, und dabei die große Genugthuung genossen, daß mein Roman, wider alle mein Erwarten, große Gnade vor meines Vaters Augen fand.

Ich hatte die Besorgniß gehegt, daß er weder mit dem Stoffe an sich, noch damit zufrieden sein werde, daß eben ich diese Tendenz vertrat, indeß mein Vater hatte nach wie vor die schöne Gewohnheit beibehalten, mit den Dingen fertig zu werden, und Nichts halb zu thun. Es[303] war mir daher erfreulich und rührend, es zu sehen, wie er seine Autorität über mich völlig außer Acht ließ, wenn er es mit meinen Arbeiten zu thun hatte, wie er sich ganz allein an die Sache hielt, und mich ohne Abmahnung oder Antrieb meinen Weg suchen und wählen ließ.

Hatte ich einige Kapitel fertig, so las ich, was früher nicht geschehen war, sie dem Vater am Abende nach seinen Comptoirstunden vor; und einmal forderte er mich auf, einem seiner Jugendfreunde, einem sehr gebildeten Kaufmanne, der mich seit meiner Kindheit kannte, ein Bruchstück aus dem Romane »zum Besten zu geben« als derselbe uns eines Abends besuchte.

Ich mußte dazu einige Scenen wählen, in denen die Schauspielerin Sophie Harcourt die Hauptperson machte, und in denen »viel vorging«; denn der Vater interessirte sich bei einem Roman wesentlich nur für das, was in demselben an Handlung enthalten war. Eben so hielt er nicht viel von den in sich fertigen Gestalten, von den idealen Charakteren. Sie waren niemals sein Geschmack, und in diesem Punkte theilte und theile ich seine Neigung. Es sind nie die sogenannten Ideale gewesen, welche zu erschaffen und auszuführen mir die meiste Freude gemacht hat, weil sich in der Regel ihres Gleichen in der Wirklichkeit nicht findet. Jene Figuren, welche das absolute Laster oder die absolute Tugend in sich darstellen, sind mir schon in den frühen Zeiten, in welchen ich mich, mit mühsam aufrecht erhaltener Geduld, durch die zwölf dicken Bände, und durch die saubern Kieswege des Grandison durchkämpfte, eben so unwahr als langweilig vorgekommen.[304]

Nicht weniger unwahr und nicht weniger langweilig als Grandison sind mir aber auch jene vollendeten Tugendheldinnen, jene idealischen Weiber, jene weiblichen, sogenannten unverstandenen Seelen erschienen, welche in der Zeit, in der ich zu schreiben begann, aus Frankreich in unsere Romane eingeführt worden waren, und gegen die ich, nachdem ich eine Weile mit einfältiger Bewunderung an sie geglaubt hatte, bald einen wahren Abscheu empfand.

Es war etwas Ueberraschendes, etwas Gewaltiges in der dreist und feurig ausgesprochenen Leidenschaft, in welcher Frankreichs erster lebender Dichter, George Sand, uns die Frauengestalten hinstellte, deren große Herzen die Männer nicht zu schätzen vermochten, und die zu keinem Frieden und zu keinem Glück gelangen konnten, weil sich nie ein Mann vorfand, der solch ein Herz zu würdigen und zu verdienen im Stande gewesen wäre. Ich selbst trug mich in jenen Tagen freilich auch mit dem Glauben herum, daß mein Herz und ich nicht verstanden und nicht gewürdigt würden, weil der Mann, den ich liebte, mich zufällig nicht wieder geliebt hatte, wie ich es wünschte; und so lange ich noch verwirrt genug, und genug in meiner Leidenschaft befangen war, um lieber ihn, als meine Verblendung anklagen zu wollen, schwärmte ich so gut wie die Andern, für die unverstandenen Frauenseelen, und fand ich eine große Befriedigung darin, mich zu ihnen zu zählen, mich mit ihnen in den Himmel erheben, und die Männer, die uns verkannten, verurtheilen zu dürfen.

Es war so unendlich viel poetischer, sich in die Kategorie der leidenden Erhabenheit einzureihen, sich einer Gemeinschaft von stillen Heiligen einzuverleiben, als ein[305] Mädchen zu sein, das leider unverheirathet geblieben war! Und so groß war damals meine Begeisterung grade für diese Frauengestalten, für diese großen weiblichen Herzen in George Sand's Romanen, für die Frauen, die in Lelia und in Leo Leoni immer frisch darauf los liebten, auch wenn man sie mit Füßen trat, daß ich über dieser Unwürdigkeit und Unwahrheit die Bedeutung übersah oder doch lange nicht genug schätzte, welche George Sand besitzt, wo er sich auf dem Boden der Wahrheit und der Wirklichkeit befindet. Erst viel später, als ich seine Irrthümer völlig begriffen hatte, habe ich mit richtigem Sinne seine große Bedeutung gewürdigt, aber so oft auch Personen, welche George Sand und mich in unsern Arbeiten nicht recht gekannt haben müssen, mich mit ihm zu vergleichen und mich als seinen Nachahmer zu bezeichnen geliebt haben, bin ich dieses Letztere doch niemals gewesen, und habe es nicht sein können. Dazu waren der Boden, von dem wir Beide ausgingen, dazu waren unsere Anlagen und unsere religiösen und socialen Anschauungen schon viel zu sehr von einander verschieden. Und wie unbedingt ich seine Meisterschaft auch anerkenne, das Recht, meine Erkenntniß und mein Irren, mein Gelingen und mein Mißlingen mir selber als mein Eigenthum zuzuschreiben, das darf ich nach diesen Bekenntnissen unbedenklich für mich in Anspruch nehmen.

Meine blinde Verehrung für George Sand währte geraume Zeit; denn der ausländische Dichter hat vor dem heimischen den Vorzug voraus, daß man ihm nicht so bequem nachkommen, daß man ihn nicht so leicht kontrolliren kann, und ihm deßhalb bereitwilliger vertraut.[306] Was ich George Sand lange genug auf sein beredtes Wort geglaubt hatte, das glaubte ich der Gräfin Hahn-Hahn, als diese unter uns auftrat, nicht mehr auf ihr Wort. Ich war einige Jahre älter, war ruhiger und reifer geworden, hatte meine Irrthümer erkennen, und mit mir fertig werden lernen; und wenn die erhabenen Herzen aller der Gräfinnen in den Hahn-Hahnschen Romanen mir Anfangs auch noch so sehr imponirten, so lag das im Grunde nicht allein in der idealischen Vollkommenheit dieser Gräfinnen, sondern zum Theil auch in gewissen äußern Anreizen.

Für uns Bürgermädchen und für die Frauen des Bürgerstandes überhaupt, die wir auf Arbeit und Beschränkung angewiesen sind, hatte der völlige Müßiggang der vornehmen Damen in den Hahn'schen Dichtungen etwas Bezauberndes. Bei George Sand war das ganz anders. Genévieve machte Blumen von früh bis spät, Pauline nähte in ihrer einsamen Provinz, die Herbergsmutter in den Compagnons du tour de France arbeitete was Zeug hielt. Es war das ein gutes bürgerliches Element in George Sand, und die Frauen liebten doch auch ehrlich, und gingen ehrlich an ihrer Liebe zu Grunde, wenn es eben nicht anders sein konnte. Bei der Gräfin Hahn-Hahn war das aber anders. Erstens liebten in der Regel nur Gräfinnen, und die Liebe wurde dadurch gewissermaßen zu einem aristokratischen Vorrecht erklärt, zweitens wollten die Gräfinnen immer nur sehr lieben, konnten es aber nie recht zu Stande bringen. Sie waren hauptsächlich für das Geliebtwerden auf der Welt, sie vertraten in der modernen vornehmen Gesellschaft[307] die Madonnen, und warfen nur gelegentlich, wie etwa die Maria von Gemund dem armen Violinspieler den goldenen Pantoffel ihrer Liebe zu, jedoch immer mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, nicht, wie die ehrliche Madonna von Gemund, den zweiten Pantoffel im Nothfall nachzuwerfen, sondern vielmehr fest entschlossen, den ersten Pantoffel stracks zurück zu nehmen, wenn sie ihn etwa anderweit gebrauchen sollten.

Dies Manöver und diese Tendenz begriff ich aber Anfangs so wenig, als die große Masse unserer andern Frauen. Die Romane »Ilda Schönholm« und »der Rechte« erschienen mir höchst bewundernswerth. Wenn ich in der Hangelstube saß, und auf die Nachbarhäuser und die Nachbarn gegenüber blickte: auf den Materialhändler und den Klempner, und dabei an den Mittag dachte, und ob die Köchin auch Nichts verderben werde; oder wenn ich Abends zur Gesellschaft die Männer um mich hatte, die müde gearbeitet und voll mancherlei Sorgen waren, und denen es gar nicht einfiel, mich zu lieben, so dünkte es mich gar zu beneidenswerth, wenn die Romangräfinnen im rosa Mousselinkleid mit schwarz seidenen Schuhen auf der Plattform des Mailänder Domes saßen, auf das Land und auf die schneebedeckten Alpen schauten, und keine Sorgen hatten und obenein über alle Maßen geliebt wurden! Dazu waren alle Romane der Gräfin Hahn äußerst spannend, und die Welt, in welcher sie sich bewegten, eine mir damals noch fremde und sehr anziehende. Gab man die Grundlagen der Charaktere zu, so waren sie mit Meisterschaft durchgeführt, die Reflexionen der Gräfin hatten etwas Blendendes, ihre Empfindungen[308] waren bisweilen tief, sie war in jedem Betrachte ein großes Talent; aber schon bei ihrem dritten Romane, bei der Faustine, wurde ich mißtrauisch gegen sie, und bekam ein ehrliches Mitleid mit den Männern.

Ich konnte es gleich Anfangs nicht begreifen, weshalb Faustine in das Kloster gehen muß; und als ich dann im Sommer von vierundvierzig in Teplitz die Faustine zum zweiten Male las, fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Es war mir, wie vor jenen Jahrmarktsbildern, welche eine schön geputzte Dame dar stellen, und die, wenn man sie umklappt, Nichts sind, als ein grauenvolles Skelett. Fast ohne es zu wollen, setzte ich mich nieder, und schrieb mit dem heftigen Zorn des Neubekehrten, der sich gegen das von ihm angestaunte Götzenbild erhebt, eine Kritik des Romanes. Es lag für mich etwas so Ungesundes, Unwahres darin, daß Faustine, die angebetete Gattin eines edlen, von ihr heißgeliebten und sie zärtlich liebenden Mannes, die Mutter eines »göttlichen Knaben«, die gefeierte Künstlerin, gar Nichts mit sich und mit dem Leben anzufangen weiß, als in das Kloster bei den vive sepolte einzutreten, weil sie: »anbeten, immerfort anbeten will!«

Ich mochte diese Recension aber nicht unter meinem Namen drucken, eben so wenig, da ich dies nie gethan, sie anonym erscheinen lassen; und sie blieb deshalb liegen, und wurde niemals gedruckt. Ich fing von da ab jedoch an, die Werke der Gräfin Hahn mit offenen Augen zu betrachten. Mein Widerwille gegen die weibliche Selbstsucht und gegen die Herzlosigkeit, welche in jedem ihrer Romane sich dreister und heuchlerischer zugleich, kund[309] gaben, stieg dadurch von Jahr zu Jahr, weil ich von Jahr zu Jahr die Verblendung wachsen sah, welche sie in den Köpfen und in den Herzen einer Menge von Frauen anrichteten.

Sie wollten mit einem Male Alle, jung und alt, mehr und mehr geliebt werden und vergaßen, daß im Lieben Glück liegt. Jedes alternde Mädchen, das mit seiner Haltlosigkeit nicht fertig werden konnte, jede Frau in deren Klaviergeklimper der beschäftigte Mann keine Offenbarung zu erkennen vermochte, steifte sich zur unverstandenen Seele auf; und Frauenzimmer, welche die Männer eben so wenig kannten als ihr eigenes Innere, nahmen die müßigen, bald rohen, bald schwärmerisch anbetenden, meist aber völlig charakterlosen gräflichen Helden der Gräfin, für die Typen des männlichen Geschlechtes, dem sie sich eben deshalb auf sehr billige Weise überlegen, und über das sie sich sehr leicht erhaben fühlen konnten.

Ich habe in den Jahren von achtzehnhundert vierundvierzig bis siebenundvierzig, in welch Letzterem ich die »Diogena« schrieb, zehnmal die Feder angesetzt, um einmal auszusprechen, wie ich diese Richtung verdammte; aber ich dachte immer: es findet sich wohl ein Anderer, der es sagt, und habe geschwiegen, bis in dem Roman »Sibylle«, nach meinem Empfinden, die Herzlosigkeit und Verschrobenheit ihren Höhepunkt erreicht hatten, und bis ich auch diesen Roman von den Frauen in ihr Credo aufgenommen fand.

Ich konnte die Phrase: »Eine immense Seele aber leer«, »une âme immense mais vide«, mit welcher Sibylle bezeichnet wird, und die beiläufig der Lelia oder Leo Leoni wörtlich entlehnt ist, nicht aus den Gedanken[310] verlieren; sie ärgerte mich von früh bis spät. Wie man aber wohl geneigt ist, seinem Zorn und seiner Empörung einmal mit einem heftig ausbrechenden Worte Luft zu schaffen, so war es eine Art von Selbsthülfe, welche ich mir in der »Diogena« bereitete, während ich es als ein gutes Werk ansah, Andern sichtbar zu machen, was ich selber zu sehen gelernt hatte. Es ist Nichts dagegen zu sagen, wenn Jemand einen Handel mit Gift treibt, sofern er über seine Thüre schreibt: Hier wird Gift verkauft! Wer aber vorgiebt, Nahrungsmittel feil zu halten, und vergiftet diese, der ist, wie strafbar er auch sein möge, sicherlich nicht gefährlicher und nicht strafbarer, als Derjenige, der den nackten Egoismus auf den Altar der Liebe setzt, und der den Frauen Selbstsucht und Selbstvergötterung predigt, welchen man Liebe und Hingebung als ihr schönstes Vorrecht, und als den sichersten Weg zu ihrem Glück darzustellen hat. – Und neben dieser innern Unsittlichkeit in den Romanen der Gräfin Hahn, war der geschmacklose Leichtsinn, mit welchem die deutsche Sprache gehandhabt und in einen wahren Mischmasch von Fremdwörtern verwandelt wurde, in meinen Augen eine wahre Sünde gegen den heiligen Geist unserer edlen Muttersprache; eine Sünde, gegen welche man um so mehr einzuschreiten hatte, da es sehr verlockend für die Halbbildung war, sich durch den Gebrauch des Salon-Jargons die Allüren der Vornehmen anzueignen.

Ich komme wohl im weiteren Verlauf dieser Aufzeichnungen auf den Zeitpunkt und die Umstände, unter welchen ich die »Diogena« schrieb und veröffentlichte, noch einmal zurück.[311]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 289-312.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon