Sechstes Capitel

[65] Es war Alles still im Hause, aber Niemand schlief. Schrecken und Sorge hielten Jedermann wach.

Als die Baronin von dem Blutsturze befallen und der Arzt herbeigekommen war, hatte er es für unmöglich oder doch für höchst gefährlich erklärt, sie in diesem Zustande nach ihrem Hotel bringen zu lassen, in welchem ohnehin kaum die für eine solche Kranke unerläßliche Ruhe und Bequemlichkeit zu finden waren, und Herr und Madame Flies hatten augenblicklich mit der größten Bereitwilligkeit dem Freiherrn ihre ganze Wohnung und ihre Dienste zur Verfügung gestellt, die man unter diesen Verhältnissen annehmen zu müssen geglaubt hatte.

Vorsichtig hinaufgetragen, lag Angelika in dem besten Zimmer des Hauses, das in den Garten hinaussah, wohl gebettet, vor dem Schimmer der Nachtlampe geschützt, und hörte schlaflos die leisen Pendelschläge der Uhr aus dem Nebenzimmer an ihr Ohr klingen, die sich langsamer, ach, viel langsamer bewegten, als der fiebernde Schlag ihres müden Herzens. Ihre Kammerfrau befand sich an ihrem Lager, hinter dem Bettschirme wachte geräuschlos Madame Flies.

Nebenan in ihrer Stube saß Seba an dem offenen Fenster. Sie hatte sich nicht ausgekleidet. Sie mußte etwas erwarten, denn sie sah in kurzen Zwischenräumen immer wieder auf die Straße hinaus, und es war nicht die milde Schönheit der warmen[65] Sommernacht, die sie dazu verlockte. Paul war verschwunden, und man suchte ihn.

Als er am Nachmittage aus der Schule gekommen war, hatte er einen prächtigen Wagen, einen reich geschmückten Jäger vor der Thüre des Hauses stehen sehen. Ganz hingenommen von einem einzigen Gedanken, war er, wie er das oftmals that, in das Comptoir gegangen, um zu fragen, wem die schöne Equipage zugehöre.

Dem Freiherrn von Arten, sagte ihm der Lehrling. Paul starrte ihn bei den Worten so erschrocken an, daß der junge Mensch nicht wußte, was dem Knaben beigekommen sei, und ihm den Namen des Freiherrn mit der Frage wiederholte, ob Paul ihn nicht verstanden habe.

Ja, ich habe ihn verstanden, antwortete er, und ging hinaus; indeß er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Er lief die Treppe hinauf, sich oben zu verbergen. Aber wovor sollte, wovor hatte er sich zu verbergen? Ich habe ja nichts verbrochen, dachte er, und doch war ihm so bange, doch war er so verwirrt. Er konnte es nicht mehr aushalten oben in seinem Stübchen; sein Vater war ja unten!

Er wartete eine kleine Weile; er meinte, der Freiherr werde, da er nun im Hause sei, zu seinen Pflegeeltern kommen und ihn rufen lassen. Er horchte, ob die Thüre nicht aufgehe, ob Niemand die Treppe emporsteige, ob der Wagen fortfahre. Es blieb Alles still. Mit Einem Male sagte er sich: Wenn der Wagen fortfährt, dann ist es zu spät, dann ist Er auch fort! – und wie ein Pfeil schoß er die Treppen hinunter. Er öffnete die Stube, welche an den Laden anstieß; es war Niemand darin. Er suchte Seba, er hätte sie etwas fragen mögen, aber er mochte sich nicht noch einmal entfernen. Die Thüre nach dem Laden war nur angelehnt; er drückte sie behutsam weiter auf. Nun konnte er die Stimmen unterscheiden und hören, was man sprach;[66] aber nur Herr Flies und eine Dame redeten. Sollte mein Vater schon fortgegangen sein? fragte er sich, und das Verlangen, sich zu überzeugen, trieb ihn vorwärts. Wenigstens sehen wollte er seinen Vater doch. Er trat in den Laden hinein, man bemerkte es nicht, und doch mußte er mit beiden Händen den Tisch anfassen, um nicht aufzuschreien.

Ja, das war er! Nun kannte er ihn! Das war sein Vater, sein lieber Vater! Nun besann er sich auf Alles! Wie oft hatte er ihn in die Höhe gehoben, wie oft hatte er ihn geküßt, sein Vater, der Onkel Baron! Auf seinen Knieen hatte er ihn reiten lassen; auf dem Stuhle hinter dem Onkel Baron hatte er gestanden und seine kleinen Arme um dessen Hals geschlungen, bis der Onkel ihn zu sich gezogen und ihm die Geschichte erzählt hatte, die Geschichte – auf die er sich nicht mehr recht besinnen konnte und die ihm doch noch immer in den Sinn kam. – Sein ganzes Herz flog dem Freiherrn entgegen. Onkel Baron, lieber Vater! wollte er rufen im vollen Glücksgefühle – aber er ist ja nicht Dein Onkel, sagte er sich, und Vater darfst Du ihn nicht rufen, denn er will nichts von Dir wissen, weil Du in Sünde und in Schande geboren bist! – Er schauderte zusammen, er fühlte es wie einen Fluch über sich liegen.

Er blickte den Freiherrn an, er blickte die schöne, schlanke Dame an, er stand dicht neben dem blonden Knaben, er kannte sie alle!

Das war sein Vater, das war seines Vaters Frau, das war sein kleiner Bruder; der Bruder, welcher hinter den goldenen Fenstern des schönen Schlosses wohnte und der die Rehe und die Hirsche hinter dem Gitter füttern durfte. Er hätte ihm die Hand geben mögen, wenigstens mit dem Bruder hätte er sprechen und wissen mögen, wie er heiße. Er ging an ihn heran, indeß in dem Augenblicke bemerkte ihn Madame Flies, und dringend und leise befahl sie ihm: Geh', geh', lieber Paul! Geschwind, mach', daß Du fortkommst, Kind![67]

Aber diese Anweisung bewirkte gerade das Gegentheil, obwohl er ihre Bedeutung ganz und gar verstand. Die Rührung, die Sehnsucht, welche er gefühlt, machten einer trotzigen Empfindung Platz. Er wollte nicht gehorchen, nicht hinausgehen; er wollte bleiben, er wollte sehen, was denn daraus werden würde. Endlich mußte der Freiherr sich doch umdrehen, endlich mußte er ihn doch erkennen, denn er war ja sein Sohn; und wenn er ihn erkannte –

Da drehten sie sich Alle um, da schlug die Bemerkung seines Bruders, der Aufschrei der Baronin an sein Ohr. Er sah, wie sein Vater sich kalten Auges von ihm wendete, wie man die Baronin als eine Sterbende davontrug, er fühlte, wie Madame Flies ihn heftig zurückstieß, und als falle es mit klingenden Hammerschlägen auf ihn nieder, so tönte es immerfort in seinem Kopfe: Mache, daß Du fortkommst! Sie waren Alle hinausgegangen. Er blieb ganz allein in dem Laden zurück.

Was gehe ich sie auch an? Was gehen sie mich an? dachte er, und doch fiel ihm die Einsamkeit sehr schwer. Er sah sich in dem Laden um, als müsse er sich Alles recht einprägen, damit er es nicht vergesse. Den Laden sehe ich auch nicht wieder, sagte er sich, und dabei merkte er erst, daß er beschlossen habe, fortzugehen. Er hatte schon die ganze Nacht daran gedacht. Er konnte es nicht aushalten, hier zu bleiben, wo Jedermann es wußte, daß er in Sünde und in Schande geboren sei. Er wollte seinem Vater nicht wieder vor die Augen treten, denn er liebte den Vater nicht mehr, er wollte von ihm nichts mehr wissen, nichts mehr hören, nichts mehr haben, gar nichts mehr haben!

Trotz und Verzagtheit, Liebe und Haß, erwachtes Ehrgefühl und erlittene Kränkung stürmten wild durch einander auf ihn ein, und dazwischen tauchte das Bild seiner Mutter, wie er es sich gestaltet hatte, vor seiner Seele auf, und er erinnerte sich, wie sie geendet, wie die Verzweiflung sie aus der Welt und in[68] den Tod getrieben hatte. Er wußte auch nicht, was er hier sollte; er mochte Niemanden sehen, von Niemandem gesehen werden, und am wenigsten von seinem Vater, der sich von ihm abgewendet, und von der Kriegsräthin, die ihm gesagt hatte, daß er in Sünde und Schande geboren sei und daß ein Schimpf auf ihm ruhen werde all sein Leben lang. Das wollte er nie wieder von eines Menschen Munde vernehmen; er wollte hin, wo Niemand ihm das sagen konnte, wo Niemand es wußte, Niemand ihn kannte – fort! Er nahm seine Mütze und ging. –

In der Unruhe und Aufregung, welche das Erkranken der Baronin veranlaßt hatte, beachtete man es nicht, daß Paul nicht um die gewohnte Stunde zum Vesperbrode kam. Als die Kriegsräthin ihn später vermißte, meinte sie, daß Schrecken und Furcht vor einer Strafe ihn abhalten möchten, vor ihr zu erscheinen, da sie ihm verboten, sich seinem Vater in den Weg zu stellen, und da er jetzt erlebt habe, welch ein Unheil er damit angerichtet. Indeß es war nicht seine Weise, ohne Erlaubniß fortzugehen oder sich feige einer Strafe zu entziehen, und als eine Stunde um die andere verging, als der Abend hereinbrach, als die Dämmerung der Nacht zu weichen begann, fing man unruhig zu werden an, und vor Allen zeigte sich Seba besorgt.

Man hatte Paul's Büchertasche unten auf dem Zahltische liegen gefunden; der Lehrling hatte ihn eine Weile im Laden stehen und dann fortgehen sehen. Man schickte zu den Knaben, mit denen er Verkehr hielt, er war aber bei keinem von ihnen gewesen; man fragte in der Straße, ob man ihn bemerkt, aber Niemand wußte sich dessen zu erinnern, und wer achtet auch an einem schönen Sommerabende, an dem die Leute alle draußen sind, auf das Kommen und Gehen eines Knaben?

Um elf Uhr, als Angelika ruhiger geworden war und als der Freiherr das Haus verlassen wollte, um sich in seinem Gasthofe zur Ruhe zu begeben, trat er in die Wohnstube der Flies'schen[69] Familie ein. Er fand nur Seba in derselben, und nachdem er gebeten, ihn augenblicklich zu benachrichtigen, wenn der Zustand der Baronin seine Anwesenheit erheischen sollte, fragte er: Wer war der Knabe, Mademoiselle, der sich in Ihrem Laden aufhielt, als die Baronin von dem üblen Anfalle betroffen ward?

Wie er das fragen kann? dachte Seba. Sie hätte ihm sagen mögen: Es ist Ihr Sohn, und Sie wissen das. Indeß sie überwand sich und antwortete: Es ist der Pflegesohn des Kriegsraths Weißenbach, der hier im Hause wohnt.

Sein Name?

Paul Mannert, sprach sie nachdrücklich, und wie fest das Auge Seba's auch auf den Freiherrn gerichtet war, sie konnte keine Veränderung in seinem ernsten Gesichte lesen. Das empörte sie, und, hingerissen von der Angst um ihren Schützling, voll Abscheu vor der Ruhe seines Vaters, die mit ihrer Sorge in so grellem Widerspruche stand, rief sie: Er ist aber nicht mehr da, der Knabe! Er ist fort, der Paul, und wir suchen ihn vergebens! Gott gebe, daß er in seiner Verzweiflung nicht wie seine Mutter geendet hat!

Wie ein Blitz zuckte es durch die Gestalt des Freiherrn, es zitterte in seinen Mienen, und mit bebender Lippe fragte er: Was wissen Sie von ihm, Mademoiselle?

Er mußte sich niedersetzen; Seba war über ihr eigenes Thun erschrocken, aber der Grimm gegen diese vornehmen Männer, die Alles unter die Füße treten zu können glaubten, die Empörung über die Herzenskälte des Freiherrn, die Erinnerung an die Schmach des eigenen Geschickes hoben sie über sich hinaus, und kalt und stolz, wie der Freiherr eben erst vor ihr gestanden hatte, sagte sie: Ich weiß wer der Knabe ist, weiß, daß seine Mutter in Verzweiflung ihren Tod im Wasser gesucht, und Gott gebe, daß er ihr's nicht nachgethan hat, denn er fühlte sich verstoßen![70]

Der Freiherr fuhr auf. Er wollte die unberechtigte Anmaßung dieses Judenmädchens zurückweisen, aber das harte Wort erstarb ihm auf der Lippe, und wie im Schmerze schloß er die zornfunkelnden Augen. Das währte indeß nicht lange, dann hatte er seine Wahl getroffen, seine Entscheidung schnell gefaßt, und während Seba in ihrem Herzen noch darüber triumphirte, daß es ihr gelungen war, einen dieser Edelleute, den Freiherrn von Arten, der seines Kindes vergessen konnte, der Herbert beleidigt, der Adam gekränkt, der kein Herz hatte, so wenig Graf Gerhard ein Herz gehabt, unter ihrem Blicke zusammenbrechen und vor ihrem Worte zittern und leiden zu sehen, erhob der Freiherr sich und sagte mit schonender Herablassung: Ihre Aufregung macht Ihrem guten Herzen Ehre, Mademoiselle Flies, und der Unerfahrenheit muß man selbst den Mangel an der nöthigen Delicatesse nachsehen! Ich hoffe, daß man nichts versäumt, den Knaben aufzufinden, an dem Sie so viel Antheil nehmen! Der Vorsicht wegen will ich selbst dafür Schritte thun lassen! Leben Sie wohl, Mademoiselle!

Seba stand und blickte ihm nach. Sie biß die Zähne auf einander, um die laute Verwünschung zurückzudrängen, welche ihr aus dem Herzen auf die Lippen stieg. Sie hörte, wie der Baron leise mit ihrem Vater sprach, dem er im Hause begegnete, und zornig das Haupt schüttelnd, rief sie: Es giebt keine Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden, wenn nicht einst der Tag der Vergeltung für sie Alle kommt, wenn sie nicht ernten müssen, was sie säeten!

Aber es blieb ihr nicht lange Zeit für ihre Gedanken. Ihr Vater, der Kriegsrath und die Kriegsräthin kamen herbei; sie sollte noch einmal Alles erzählen, was sie gestern von Paul gehört, was sie mit ihm gesprochen, und während sie im Grunde nur wenig zu sagen hatte, während sie gar keine Vermuthung hegte, die auf irgend eine Spur zu leiten vermocht hätte, wurde[71] die Kriegsräthin nicht müde, es immer zu wiederholen, mit welcher Voraussicht und Sorgfalt sie gehandelt, wie sie allein daran gedacht habe, dem geschehenen Unheil vorzubeugen, und wie nur der widerspänstige Charakter des Knaben, den er von seiner Mutter habe, sie um die Früchte jahrelanger Opfer gebracht, alle ihre Plane zerstört, die Baronin von Arten auf das Krankenlager geworfen und dem Freiherrn die übelsten Begriffe von der Erziehung gegeben haben müsse, welche Paul genossen. Sie verlangte Anerkennung, Trost und Zuspruch von ihrem Manne und von den Andern zu erhalten, und nicht ein einziges Mal fiel es ihr ein, welchen Antheil sie an der traurigen Gemüthsverfassung des armen Knaben hatte, und kein Vorwurf in ihrem Innern sagte ihr, daß sie und ihre unheilvollen Aufklärungen ihn aus dem Hause getrieben, in welchem sie, die Trostbegehrende, nie eine Aufwallung der Liebe, nie ein Herz für ihn gehabt hatte.

Während sich bei Seba und bei den Männern mit den fortschreitenden Stunden die Hoffnung, daß Paul freiwillig wiederkehren werde, verminderte, und die Sorge, daß er ein unglückliches Ende genommen habe, sich steigerte, gab die Kriegsräthin, als sie sich ermüdet zu fühlen begann, immer zuversichtlicher sich der Erwartung hin, Paul werde nach Kinder-Art von selbst nach Hause kommen, wenn Hunger und Müdigkeit ihn dazu trieben, und wenn man nur aufhören wolle, so ängstlich auf seine Wiederkehr zu achten. Er sei fraglos ganz in der Nähe, er warte nur auf die Gelegenheit, sich unbemerkt in seine Schlafkammer zu schleichen. Und stets bereit, die Umstände so anzusehen, wie es mit ihren Wünschen am besten zusammenstimmte, nannte sie es das Gerathenste, die Ruhe zu suchen und nicht um eines Knabenstreiches willen das Haus, die Nachbarschaft oder gar, wie es in Folge eines Schreibens, das der Freiherr dem Kriegsrathe für den Polizei-Director übergeben, geschehen war,[72] die Stadtbehörden in Bewegung zu setzen. Indeß weder der Schlaf, dem die Einen sich überließen, noch die Herzensangst, mit welcher Seba in ihrem Zimmer wachte, änderten das Geschehene; – Paul blieb aus.

Gegen den nächsten Mittag, als die Kammerjungfer der Baronin sich entfernt hatte, um aus dem Hotel verschiedene Gegenstände herbeizuholen, deren man für die Kranke bedurfte, hatte Seba deren Stelle an dem Lager eingenommen.

Die Sonne schien warm in das Zimmer hinein, durch die geöffneten und leicht verhängten Fenster stieg der Duft der Reseda aus dem Garten in das Gemach. Man hörte das leise Säuseln der Blätter, der linde Windhauch bewegte die Vorhänge, und hier und da schlich sich ein gedämpfter Sonnenstrahl hinein, seinen Schimmer über Angelika's bleiche Stirn und über ihr goldblondes Haar verstreuend. Es waren schwere Stunden gewesen, der Tag und die Nacht, die hinter ihr lagen. Sie hatte kein Auge geschlossen.

Als sie am verwichenen Nachmittage von ihrer Erschöpfung zu sich gekommen war, hatten ihre ersten Worte Paul gegolten.

Unfreiwillig habe ich seine Mutter getödtet, unfreiwillig giebt er mir den Tod! sagte sie zum Freiherrn, der düster brütend an ihrem Lager weilte. Sie verlangte nach Paul, sie wollte ihn sehen; man stellte ihr die Anordnung des Arztes dagegen auf, und sie verzichtete auf die Erfüllung ihrer Forderung. Aber ihre Gedanken blieben mit ihm beschäftigt, und selbst als die verwirrenden Nebel des Fiebers ihren Sinn überwältigten, sah sie ihn vor Augen. Bald rief sie, daß er sie ergreife, daß er sie morde, bald klagte sie sich an, daß sie ihm die Mutter nicht ersetzt habe, und gelobte ihm, es künftig zu thun. Dann wieder mußte sie ihn im Kampfe mit Renatus wähnen, denn sie schrie auf und beschwor den fremden Knaben, ihres Sohnes zu schonen, der schuldlos an all dem Unheil sei. Noch am Mittage, als[73] Seba an ihr Lager gekommen war, hatte sie gewacht, und erst unter Seba's Obhut, die mit so brennenden Erinnerungen an ihrer Seite saß, hatte sie Schlaf und Ruhe finden können.

Seba hatte die Baronin zuerst gesehen, als man sie, eine Bewußtlose, in dieses Zimmer brachte. Sie hatte es bis dahin geflissentlich vermieden, ihr zu begegnen, aber sie kannte dieses Antlitz. Sie kannte diese hohe, weiße Stirn, diese schmale, feine Nase, den kleinen Mund mit seinen weichen, vollen Lippen. Gerade so zogen an der Schläfe sich die blauen Adern unter der durchsichtigen Haut des Grafen hin, gerade so bogen seine leichten Brauen sich in der Mitte ihrer Wölbung aufwärts. Jeder Zug dieses schönen Antlitzes war ihr vertraut, und sein Anblick wendete ihr das Herz im Busen um.

Alles, was sie seit Jahren durchlebt und durchlitten, es drängte sich in ihr in diese Stunde zusammen! Sie mußte es noch einmal erleben und erleiden, sie konnte kaum der Hast ihrer eigenen Gedanken, der wilden wechselnden Gewalt ihrer Empfindungen folgen. Gerhard's Schwester lag in ihrem Vaterhause, eine zum Tode Erkrankte, vor ihren Augen da. Es war des Grafen Schwester, über der sie wachte, von deren Schlummer sie jede Störung fern zu halten strebte, – und Jahre lang hatte sie die Nächte im grimmen Schmerze durchwacht, in Verzweiflung durchweint, in Scham durchseufzt – um Gerhard's willen! Mit welcher Stirn würde er da stehen, wenn die Baronin einst Seba's Namen vor ihm nennen würde, den Namen des vertrauensvollen Mädchens, dessen Glück und Liebe er so frevelhaft gemordet! Wenn er, er selber es wäre, wenn er so daläge, hülflos mir hingegeben! dachte sie.

Tödtlicher Haß und das heiße Verlangen, sich zu rächen, schwelgende Erinnerungen und Erbarmen mit dem eigenen Leide bedrängten sie, und es dünkte sie ein Fluch, daß sie den Haß kennen lernen, daß die Verachtung statt der Liebe in ihr lebendig[74] geworden war. Dann wieder fühlte sie sich plötzlich über alle Trübsale fortgetragen, leicht und frei. Sie konnte auf ihre Vergangenheit zurückblicken wie auf eine abgelegte Hülle, die ihr fern lag, sie fühlte sich durch ihr Denken und Thun weit über sie hinausgehoben, und doch blutete ihr das Herz, doch schwammen ihre Augen in Thränen; denn wie sie auch danach rang, sich neu aufzuerbauen, – es blieben ihr doch unwiederbringlich jene unschätzbaren Güter verloren, ohne welche das Menschenleben trübe wird wie ein Tag, dem die Sonne bei seinem Aufgange und Niedergange nicht leuchtet: die freudige Erinnerung an die eigene Jugend und der Glaube an das Glück der Zukunft!

Und wenn sie eine Weile den eigenen Erinnerungen und dem Schmerze nachgegeben, dann fiel der arme Paul, ihr armer Paul ihr ein. Wo mochte er weilen, wo konnte er sein? Sie hätte hinauslaufen mögen, ihn zu suchen, aber wohin sollte sie sich wenden? Warum war er nicht zu ihr gekommen, der er doch vertraute, die er liebte, die ihn in ihr Herz geschlossen, als dieses Herz sich an Liebe und an Freude ganz verarmt geglaubt? Was mußte ihm geschehen sein, was mußte man ihm gethan haben, daß er ihrer nicht gedacht, daß er sie vergessen hatte? Es war ihr, als müsse sie ihn rufen, als könne er gar nicht ausbleiben, wenn sie ihn nur riefe; aber hier, an diesem Lager, durfte sie ihn nicht rufen, nicht seinen Namen nennen, denn hier, in ihrem Schutze, sollte die Gräfin Berka, die schöne Frau des Freiherrn von Arten, Ruhe finden, die Frau, um deretwillen die Mutter Paul's die sonnige Erde verlassen und sich begraben hatte in des Wassers kalte, dunkle Tiefe.

Wie aber, wenn auch Paul wirklich nicht mehr auf der Erde weilte? dachte sie; wenn auch seinen schönen jungen Leib die Wellen verschlungen hätten, wenn seine Augen, in deren hoffnungsreiche Fröhlichkeit sie sich so gern versenkt, gebrochen wären, wenn die Fluth ihn jetzt schon mit sich trüge weit hinaus,[75] hinaus ins Meer! Ihr graute vor der Vernichtung seiner jugendlichen Schönheit – ihr graute vor dem Tode. Und schwebte nicht vielleicht auch über dem stolzen, blonden Haupte, das hier vor ihren Augen schlummerte, schon des Todes Sichel? War denn jetzt Alles dem Untergange geweiht?

Sie neigte sich leise zu der Kranken hernieder, um zu hören, ob sie athme, da schlug Angelika matt die Augen auf und blieb mit dem träumerischen Blicke an Seba haften. Sie konnte sich nicht besinnen, wo sie war, sie schaute Seba mit Befremdung an, aber ihre Miene wurde dabei immer freundlicher, und beide Hände faltend, bewegte sie leise ihre Lippen.

Seba kniete nieder, um ihre Worte zu verstehen. Die Baronin schien das mit Ueberraschung zu gewahren. Sie faßte nach Seba's Hand; ein leises Ach! entfloh ihrem Munde, da sie dieselbe berührte, und mit schmerzlicher Klage sagte sie: Ich lebe also noch?

Ja, Gott sei Dank, Sie leben! rief Seba. Gott sei Dank, Sie leben! wiederholte sie, von einer Rührung ergriffen, die sie nicht bemeistern konnte, und Sie werden leben bleiben!

Die Baronin legte ihre Hand matt und langsam auf das Haupt der Knieenden. Ich bin sehr müde, seufzte sie, und die Augen schließend, während sie Seba's Hand in der ihrigen hielt, bat sie: Gehen Sie nicht von mir, es ist mir wohl in Ihrem Schutze!

Theure, theure Frau! rief Seba, indem sie die Hand der Kranken an ihre Lippen preßte und heiße Thränen ihre Augen füllten.

Was haben Sie? fragte die Kranke ängstlich. Aber Seba nahm sich schnell zusammen. Nichts, nichts, sagte sie. Ich bin so glücklich, daß Sie Ruhe finden, daß Sie mich um sich haben mögen!

Angelika drückte ihr die Hand, und aufs Neue nahm der Schlummer der Ermattung sie gefangen.[76]

Seba aber saß still und regungslos an ihrem Lager. Sie dachte des Uebels nicht mehr, das der Bruder dieser Frau ihr gethan, weil sie jetzt der Schwester liebend beistand; sie vergaß des eigenen Unglücks über dem Leiden dieser Frau, und wie Wolken sich bilden und vergehen, sich formen und ihre Formen wechseln, daß man nicht weiß, wofür man sie zu halten und wie man sie zu deuten hat, während doch das Auge und der Sinn sich nicht von ihnen abzuwenden vermögen: so zogen an ihrem Geiste die Gestalten des Grafen und des Freiherrn, Angelika's und Herbert's und der Geschwister aus dem Amthause vorüber, und dazwischen dachte sie des Knaben, dem sie so viel verdankte und dem sie von ganzem Herzen zu vergelten gewünscht.

Wie komme ich, eben ich denn gerade in diesen Menschenkreis? Weßhalb laufen alle diese Schicksalsfäden in dem Bereiche zusammen, den ich übersehe? Und was kann, was soll ich thun inmitten dieser Menschen? Ich, die ich selbst unglücklich und ohne alle Hoffnung bin? fragte sie sich immer und immer wieder.

Da quoll es warm in ihrem Herzen empor, jenes beseligende Lieben um des Liebens willen, das dem Menschen noch Glück bereitet, wenn er sich alles Wünschens und Wollens für sich selbst entschlagen hat, und mit überwallender Empfindung rief sie sich zu: Ich kann lieben, hoffen, helfen und trösten! Ich will hoffen für den armen Paul, und vor allem Dich trösten und Dir helfen, Du schöne, kranke Frau![77]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 65-78.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon