Zehnter Brief

Marie an Sophien

[61] Theure Freundinn, wie bedaure ich Sie! O Gott, ich weiß, wie sehr getäuschte Liebe schmerzt, wie hart es ist, zärtlich und treu geliebt zu haben, und dann den andern untreu zu finden. Ach Sophie, ich darf nicht daran denken, ich würde sonst die Wunde aufreißen, die ich mit unsäglicher Mühe zugeheilt habe! – –

Ich bin weit davon entfernt, den Schmerz des Leidenden noch durch Vorwürfe zu erhöhen. Aber meine Aufrichtigkeit dringt mich doch, Ihnen meine Gedanken zu sagen. Daß Sie Karleheim liebten, ohne ihn genau zu kennen, das war zwar ein Fehler, den aber gewiß nur der tadeln kann, bey dem Alter und Umstände die Gefühle stumpf gemacht haben. Aber das tadle ich, daß Sie sich gleich von dieser Liebe hinreißen ließen, ohne ihr Widerstand zu thun,[61] daß Sie sie nährten, ohne Karlsheims Gesinnung erforscht zu haben, und daß Sie, wie ich fürchte, diese Liebe nicht genug vor seinen Augen verbargen. Inzwischen gebe ich Ihnen den Rath, zu fliehen; das ist das beste Mittel. Kommen Sie zu mir, geliebte Sophie; mit Freuden werde ich Sie in meine Arme schliessen, und versuchen, ob die zärtlichsten Bemühungen der Freundschaft Ihr Herz von der Liebe heilen können.

Ihr Vorsatz, das ganze männliche Geschlecht zu hassen und zu fliehen, ist auch übertrieben. Was können die armen übrigen Männer dafür, daß einer von ihnen den Wünschen meiner Freundinn nicht entspricht? Doch das schrieben Sie auch nur in einer Stunde des Unmuths. Aber dazu wird Ihnen diese Begebenheit dienen, Sie vorsichtiger über Ihr Herz wachen zu lassen. Ach! daß wir immer erst durch traurige Erfahrungen so klug werden! und doch werden[62] wir es selten eher, bis Kummer und tiefes Leiden unsre Empfindungen so abgenutzt haben, daß wir keines lebhaften Eindrucks mehr fähig sind.

Es gehört wohl unter die schwersten Fragen, ob ein weiches Herz unser Glück oder Unglück macht. Wie zufrieden lebt nicht in manchem Betracht der Mann, dessen Leidenschaften alle durch kalte Ueberlegung beherrscht werden. Mit steter Vorsichtigkeit wägt er Schaden und Vortheil gegen einander ab, und wählt das Zuträglichste. Aber ob gleich seine Seele niemals durch starke Lasten des Kummers niedergedrückt wird, so ist er doch auch nicht fähig, die entzückende Freude zweyer Seelen zu empfinden, die zum erstenmal übereinstimmend fühlen, daß Gott sie für einander schuf. Welch ein himmlisches Gefühl, wenn nun der furchtsame Jüngling den ersten Kuß der Liebe auf die Wange[63] des sanft erröthenden Mädchens drückt, wenn dann ihre Lippen sich begegnen, ihre Seelen in Eins sich zu verwandeln scheinen, und Himmel und Erde vor ihren Augen verschwindet!

Aber auch welche Quaal, wenn nun die, die kaum sich gefunden, sich wieder trennen sollen, wenn unüberwindliche Hindernisse sich ihrer Vereinigung in den Weg legen! Der liebenswürdige Jüngling, dem nun erst des Lebens Freuden aufzublühen schienen, sinkt in schwarze Melancholie. Die rührende Grazie des Mädchens, ihre Reize, durch das Gefühl der Liebe belebt, sterben plötzlich ab. Wie der Wurm im Innern der Rose, so nagt der Schmerz am zarten Faden ihres Lebens.

Alles das fühlt das Kältere nicht. Er wählt ein Mädchen, weil seine Umstände es fordern, und weil dem Menschen vom Anfang an eine Gehülfinn als nothwendig angewiesen ist. Seine Absichten werden vereitelt; gut, er wählt sich[64] eine andre, wird Gatte, Vater, Wittwer, ohne aus seiner Fassung zu kommen.

Ich gebe zu, daß ein solcher Kaltblütiger dem gemeinen Wesen vielleicht nützlichere Dienste leisten wird, als jener, aber gewiß nur so lange, als sie aufs strengste mit seinem Nutzen übereinstimmen. Denn Selbstliebe ist bey ihm die Haupttriebseder aller seiner Handlungen. Er wird seinen Nebenmenschen dienen, so lange es seine Bequemlichkeit verstattet. Aber wird er auch etwas aufopfern, um des andern willen? O da wär' ich ein Narr, spricht er.

Ich kenne einen Mann, der nun schon dreyssig Jahre im Ehestande gelebt hat, ohne sich jemals zu ärgern. Das Glück hat ihn auf eine ansehnliche Stufe gesetzt, er hat keine Familie, verbraucht kaum den vierten Theil seiner Einkünfte. Nun, da wird er von seinem Ueberfluß den Armen wohlthun, er wird durch einen Aufwand, der seinen Umständen angemessen ist, den[65] Handwerker, den Bürger in Nahrung setzen Nein, dazu ist er zu klug.

»Wer weiß, spricht er, ob ich nicht manchen Armen durch Wohlthaten im Müssiggang unterstütze? Mich nach seinen Umständen zu erkundigen, erlauben meine Geschäfte nicht. Einen großen Aufwand zu machen, um meinem Mitbürger Nahrung zu verschaffen, ist auch meine Sache nicht, das würde mir nur Unruhe machen. Ich entziehe mir nichts von dem, was ich brauche, ich lebe vergnügt und bequem; warum sollte ich meine Ruhe durch eine größere Anzahl von Bedienten stören? Die wenigen, die man halten muß, machen schon Sorge genug.«

So sammelt er ein großes Vermögen zusammen, das nach seinem Tode bald genug zerstreut werden wird. Er könnte von seinem Gelde Schätze für die Ewigkeit sich sammeln, aber im Koffer, denkt er, ist es doch sichrer verwahrt.[66]

Nun wahrhaftig, ich habe große Anlage zur Philosophie. Schade, daß mir die Gründlichkeit fehlt. Ich muß gestehen, daß solche Betrachtungen noch immer einen gewissen Reiz für mich haben; und dazu liegt wohl der Grund in meiner ersten Erziehung. Mein Vater ließ mich Sprachen und andre dergleichen Kenntnisse lernen. Das hatte nun aber die schädliche Wirkung auf mich, daß ich im zwölften Jahre ein unerträgliches Geschöpf war. Voll Stolz und Einbildung auf mein Bißchen Wissen, sah ich verächtlich auf andre Mädchen herab, die nur von ihrem Nähzeug reden konnten. Mein sonst so vernünftiger Vater hatte die Schwachheit gegen mich, meinen Einfällen und Urtheilen oft lauten Beyfall zu geben, und dieß brachte mir eine große Meynung von meinem Verstande bey. Meine vortreffliche Mutter heilte mich zwar von diesem thörichten Stolze gänzlich, aber es blieb mir doch bis zu meiner Verheyrathung noch immer[67] eine gewisse Abneigung vor häuslichen Geschäften. Ich hielt es für sehr unwürdig, den ganzen Morgen auf die Zubereitung einer Mahlzeit zu wenden, die der wollüstige Gaumen in so kurzer Zeit verschlingt. Auch das Mechanische der meisten weiblichen Arbeiten war mir verhaßt. Aber, Gott Lob, jetzo denke ich anders. Ich sehe aufs überzeugendste ein, daß diese Geschäfte unsre Bestimmung sind, und daß es unser höchstes Verdienst ist, eine gute Hausfrau, eine gute Mutter zu seyn. Wer mehr als gewöhnliche Fähig keit von der Natur bekommen hat, findet auch in der Erfüllung dieser Pflichten Gelegenheit genug, sie anzuwenden. Gute Erziehung der Kinder, kluges Betragen gegen das Gesinde, Ordnung und Sparsamkeit in der Wirthschaft – sehen Sie, das sind weit genug ausgebreitete Felder, um den besten Verstand zu beschäftigen, und die Frau, die diesem allem gut vorzustehen weiß, verdient unsre ganze Hochachtung. Ich bemühe[68] mich täglich mehr, um Einsicht von diesen Kenntnissen zu erlangen, und ich muß gestehen, daß mir die schönste Stelle eines Buchs kaum so viel Vergnügen gemacht hat, als ich jetzo empfinde, wenn ich ein schmackhaftes Gericht, von meinen Händen bereitet, meinem Mann auftrage, und er mir dann mit Vergnügen für meine Sorgfalt dankt. Albrecht ist zwar nicht dazu geschaffen, alle die kleinen zärtlichen Bemühungen und Gefälligkeiten zu fühlen, deren Erfüllung bey dem Gatten, der mich, so wie ich ihn aufs innigste liebte, mein größtes Glück machen würde. Aber demohngeachtet halte ich es für meine Pflicht, alles Mögliche zu thun, um ihn zufrieden und glücklich zu sehen, und mir seine Liebe und Achtung zu erhalten. Und zu diesem letzten Endzweck ist es durchaus nothwendig, die häuslichen Geschäfte gut zu besorgen. Strenge Ordnung, auch selbst in Kleinigkeiten, vorzüglich Reinlichkeit, und ein nie vernachlässigter[69] Anzug, erhalten uns die Achtung des Mannes. Bleibt zuweilen Zeit zum Lesen und andern solchen Beschäftigungen des Geistes übrig, so ist es desto besser; aber mit einer Frau, die bloß liest und schreibt, ist einem Manne eben so wenig gedient, als mit einem Putzaffen, die den ganzen Morgen vor dem Spiegel zubringt, und den Nachmittag und Abend vor dem Koffee- und Spieltisch vertändelt.

Meine Küche ruft mich vom Schreiben ab, und wenn ich diesem Rufe nicht folgte, so würde ich mich bey Ihnen in den Verdacht bringen, als gehörte ich unter die Moralisten, welche die schönste Moral schreiben, ohne auch nur einen Satz davon selbst auszuüben. Ich habe Ihnen auch schon einen gewaltig langen Brief geschrieben, und würde ich nicht, wie jetzt, unterbrochen, so fürchte ich, daß ich, weil ich eben im Zuge bin, noch lange in diesem Ton fortfahren würde, und dazu ist heute die unbequemste Zeit,[70] weil Sie gewiß nicht zum Nachdenken über solche Gegenstände aufgelegt seyn werden. Ich wünschte inzwischen sehr, daß mein Brief Sie etwas zerstreut haben möchte. Leben Sie wohl, theuerste Sophie, und kommen Sie bald in die Arme

Ihrer

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 61-71.
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