Zwanzigster Brief

Eduard an Barthold

[118] Heute ist Ferdinand die hauptsächliche Ursache meines Schreibens an dich, lieber Barthold. Ich schrieb dir zwar neulich schon meine Besorgnisse für ihn, aber damals war doch die Gefahr noch nicht so dringend, als jetzt. Hier hast du seine zwey letzten Briefe, aus denen du seine ganze Lage sehen wirst. Thue doch ja dein Möglichstes, um ihn von seiner jetzigen Gesellschaft abzuziehen. Es wäre ewig Schade, wenn der Junge verdorben würde. Er hat viel Anlage zum Guten, viel Feuer und Thätigkeit, aber noch das ganz offne Wesen und die Unerfahrenheit,[118] die seinen Jahren eigen ist. Seine Seele kennt kein Mistrauen, und jeder Schurke kann mit leichter Mühe sein Vertrauen gewinnen. Er besitzt vielen Ehrgeiz, der sich freylich jetzt noch auf ganz falsche Gegenstände gründet, und der niederträchtige Klinge weiß ihn bey dieser schwachen Seite zu fassen, und lenkt ihn, wohin er will. Wird er nicht bald von seinem jetzigen Wege zurückgezogen, so ist er gewiß verloren. Sey doch ja bemüht, ihn zu retten, und schreib mir den Erfolg davon. Der Junge liegt mir sehr am Herzen. Ich bin wie immer

Dein treuer Freund

Eduard.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 118-119.
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