Zweyundzwanzigster Brief

Marie an Sophien

[124] Es ist ungerecht, dem Glücklichen seine Freude durch Klagen zu verbittern, und das ist die Ursache, warum ich so lange nicht schrieb. Ich bin in einer so melancholischen Stimmung, daß[124] nichts mich zu erheitern fähig ist. Ich wollte meine Traurigkeit bekämpfen, aber ich vermag es nicht.

Das Theilnehmen des Freundes mildert den Schmerz, und meine Sophie soll ihn mir tragen helfen.

Ich suchte neulich nach einem alten Briefe einer meiner Freundinnen ein Kästchen durch, das ich in einigen Jahren nicht geöffnet hatte. Und da fand ich einen Brief von Eduard, den er einst im Entzücken der Liebe mir schrieb, wie er von mir gegangen war, und die erste Versichrung meiner Neigung mit sich genommen hatte. Blaß und zitternd wollte ich ihn zerreißen, aber es war mir unmöglich; ich wurde hingerissen, ich las ihn.

Und, o Gott! welch ein Brief! Meine Seele wurde von allen den Erinnerungen niedergedrückt, die nun mit Macht in mich drangen. Matt, mit wankenden Knien, mit Thränen, die gewaltsam[125] aus meinen Augen brachen, sank ich auf einen Stuhl.

Und nun sah ich ihn vor mir stehen, den liebenswürdigen Jüngling, wie er furchtsam um meine Liebe bat, wie ich mit gesenktem Blick ihm nicht zu antworten vermochte, wie er wonnetrunken an meine Brust sank, und nun unaussprechliche Gefühle uns durchdrangen.

Und du, den ich so innig liebte, der du so oft die heiligsten Betheurungen ewiger Liebe mir gabst, du konntest untreu werden? Gott! Unmöglich! – Und doch muß ich es glauben. Schrieb er wohl ein einzigesmal nach seiner Abreise? Sah ich nicht die Beweise seiner neuen Liebe in meines Oheims Händen? – Eduard! du, der zärtlichste Jüngling, konntest eine andre Geliebte wählen, mich vergessen? Und doch kann ich dich nicht hassen; doch bringt noch dein bloßer Name eine Erschütterung in mein ganzes Wesen?[126]

O du, den ich sonst so heiß, so unaussprechlich liebte, wüßte ich nur, daß du glücklich wärest: ich wollte dir verzeihen, wollte meine Thränen trocken. Aber gewiß! du bist es nicht. Fremde Reize rissen dein weiches Herz hin, – ach, das meinige hätte sich nicht hinreißen lassen, wärst du auch zehn Jahre von mir entfernt gewesen; denn selbst der untreue Eduard saß noch zu tief in meinem Herzen, als daß ich je in eine andre Verbindung hätte willigen können. Aber das Dringen einer sterbenden Mutter besiegte mich – Man eilte wohl, dich zu verbinden. Aber gewiß dachtest du bald nachher an dein armes Mädchen, wie sie jammerte, die Hände ringend nach dem fernen Geliebten seufzte, der nun – das Eigenthum einer andern war! Und ach, ich fürchte, dein Herz, für jedes Leiden gefühlvoll, empfand nur zu tief das meinige; und dieses Andenken verbittert dir gewiß dein ganzes zukünftiges Leben.[127]

O Gott! straf ihn nicht so hart für den Fehler, den er begieng; ach! es war das Versehen eines schwachen, nicht eines boshaften Herzens. Möchte er doch beruhigt seyn, keine Gewissensbisse fühlen! Dieser Wunsch sey noch das Gebet meiner letzten Stunde. Wenn schon Todesschauer mich ergreift, wenn schon meine Seele den letzten Kampf der sterbenden Natur zwischen Tod und Leben kämpft, dann noch wird dein Bild in meiner Brust seyn, und meine kalten Lippen werden noch Wünsche für dein Wohl zu Gott hauchen!

O Sophie! Wenn ich die seligen Tage unsrer Liebe mir denke! – Wenn ich so den Tag mit Geschäften mancherley Art zugebracht hatte, und dann der Abend kam, und ich ans Fenster trat, und mich nach ihm umsah; wenn ich ihn dann erblickte: o wie wallte mein Herz ihm entgegen! mit welchem Entzücken schloß er mich dann in seine Arme! wie war unsre Liebe so rein, ein so heiliges Feuer![128]

Ich weiß, ich fühle, daß es Sünde ist, mich diesem Gedanken zu überlassen, sträfliches Vergehen gegen Albrecht. Aber ich kann sie nicht los werden, die reizenden und quaalvollen Bilder; sogar wenn meine Augen, vom Weinen abgemattet, endlich sich schließen, verlassen sie mich nicht. Bey Tage suche ich mich zu zerstreuen, suche meinen Kummer vor Albrecht zu verbergen, und heiter zu scheinen. Aber was mein armes Herz dabey leidet, ist unbeschreiblich; oft dünkt mich, es müßte unter seiner Last zerspringen. Wissen Sie Trost für mich, Sophie, o! so schreiben sie ihn der unglücklichsten Ihrer Freundinnen.

Marie.[129]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 124-130.
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