Vierundzwanzigster Brief

Wilhelm an Karlsheim

[132] Unglücklicher Weise war ich verreist, und erhielt deine Briefe erst heute. Karlsheim! was hast du gethan! Alle deine Entschuldigungen vermögen nicht dein Betragen vor dem Richterstuhl des Gewissens zu verantworten. Hätte [132] Julie dir nichts als bloß gewöhnliche Zärtlichkeit geschenkt, so könnten deine angeführten Gründe dich vielleicht entschuldigen. Aber du weißt, daß sie mehr, daß sie ihre Unschuld dir aufgeopfert hat, und dafür bist du ihr Ersatz schuldig, und solltest billig in keine andre Verbindung treten, so lange dir Juliens Schicksal unbekannt ist.

Sie denkt gewiß zu edel, um einen andern Mann zu wählen, dem sie nicht mehr des Mädchens größte Zierde, unbefleckte Unschuld, zubringen kann. Sie hat dir zwar nicht geschrieben, aber können nicht die Briefe verloren gegangen seyn? Ist es darum ausgemacht, daß sie auch nicht mehr an dich denkt? Hättest du nicht noch emsiger in deinen Nachforschungen seyn müssen?

Wenn es nicht schon zu spät ist, so ziehe dich noch wieder zurück. Entdecke dich Sophien. Ist sie wirklich das treffliche Mädchen, das du[133] mir beschreibst, so wird sie dir verzeihen, wird deine Nachsuchungen um Julien begünstigen. O Karlsheim, überlege, was du thust, damit nicht einmal der Gedanke an ein liebenswürdiges Mädchen, durch dich unglücklich gemacht, dein Leben verbittre!

Wilhelm.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 132-134.
Lizenz:
Kategorien: