Fünfundzwanzigster Brief

Karlsheim an Wilhelm

[134] Wilhelm! welch ein schneidendes Schwerd hast du in mein Herz gestoßen! Ich wanke zwischen Pflicht und Liebe. Beyde zerreißen mit grausamer Macht mein Innres. Oft überwältigt mich der Gedanke an Julien. Ich gehe hin zu Sophien, will mich zu ihren Füßen werfen, ihr alles entdecken. Und wenn ich dann komme, hüpft sie mit der lebhaftesten Munterkeit mir entgegen, reicht mir ihre schöne Hand, und[134] fragt mich zärtlich: wo ich denn so lange geblieben sey? Und die Fröhlichkeit und Ruhe dieses reizenden Mädchens solltest du zernichten? Das entzückende Feuer dieses Auges in Thränen verwandeln? Dieser Mund, dessen zaubrischem Lächeln selbst der kälteste Einsiedler nicht würde widerstehen können, sollte in Wehklagen über dich ausbrechen? Dieses holde Geschöpf wolltest du den Spöttereyen der ganzen Stadt, die um unsre nahe Verbindung weiß, der Härte und den Vorwürfen ihrer Verwandten aussetzen?

So denke ich, und mein fester Entschluß wankt. Ich wills wenigstens verschieben, bis auf einen andern Tag, wenn sie ernsthafter gestimmt ist. Der andre Tag kömmt. Ihr gütiger Onkel spricht mit gerührter Freude von unsrer Verbindung, durch die alle seine Wünsche erfüllt werden. Erröthend hört Sophie von künftigen Enkeln ihn reden. Ihre Blicke begegnen den meinigen. Sie sinkt in meine Arme. Ich küsse[135] die Thräne der Freude weg, die verstohlen ihrem Auge entfließt, und dann an ihren Busen gelehnt, ihren schönen Mund auf meine heißen Lippen gedrückt, wie könnte ich da dem Gedanken an Trennung Raum geben?

Karlsheim.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 134-136.
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