Neunundzwanzigster Brief

Ferdinand an Eduard

[155] O daß deine ernste Moral es dir zuließe, sich mit mir zu freuen! Ich bitte dich, Eduard, lege den steifen Ton einmal ab, und nimm Theil an meinem Glück, dessen höchste Stufe ich erstiegen habe.

Heute Mittag trank Klinge ein paar Bouteillen Wein mit mir, weil er besonders fröhlicher Laune war. Nach Tische lasen wir in einem Buche, welches er eben in der Tasche hatte, dessen Verfasser freylich kein Lehrer der Keuschheit ist, das aber einen ungemein hübschen, interessanten Stil hat. Ganz voll von dem, was ich gelesen hatte, gieng ich zu Henrietten, und o, in welch einer verführerischen Stellung traf ich sie nicht! Sie schlummerte auf einem Ruhebette. Die schönste Röthe auf ihrem Gesicht, ihr wollüstiger Busen fast ganz entschleyert, ihr[155] schlanker Leib nur von einem dünnen Gewand umgeben; so lag sie, reizend, wie eine Göttinn.

Entzückt näherte ich mich ihr. Sie erwachte von meinen feurigen Küssen. Beschämt verwies sie mir meine Dreistigkeit, und hieß mich fortgehen. Ich schloß sie fester in meine Arme. Meine Einbildungskraft war entflammt: sie widersetzte sich meinen Liebkosungen, aber vergebens. Ich besiegte sie. –

Aber welch einen Auftritt hatte ich nun!

»Was hast du gethan, Nichtswürdiger! rief sie aus – – Du hast mich unglücklich gemacht. Meine Tugend, Ehre, Glück, alles ist dahin. Arme Henriette!«

Sie zerfloß fast in Thränen. Gerührt sank ich zu ihren Füßen, aber sie stieß mich zurück, und floh aus dem Zimmer. Ihre Mutter kam herein, und weckte mich aus der Betäubung, in die ich gefallen war. Das Wehklagen ihrer Tochter hatte ihr das Geschehene entdeckt. Auch[156] sie überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich erbot mich zu jeder Genugthuung, schwur, daß ich Henrietten nie verlassen würde.

»Es ist leider kein andres Mittel übrig, als daß Sie meiner Tochter eine Eheversprechung geben. O! daß ich das erleben muß, mein Kind, das schon die besten Parthien ausgeschlagen hat, an einen Studenten versprechen zu müssen!«

Ich beruhigte sie, so viel ich konnte; die Sache wurde richtig gemacht, und ich bin nun der glücklichste Mensch, Henriettens Verlobter, geworden. Mein Vater wird vielleicht nicht ganz zufrieden mit meiner Verbindung seyn, denn er befahl mir beym Abschiede ausdrücklich, mich mit keinem Mädchen zu verplempern; aber er braucht ja auch noch nichts davon zu wissen. Und wenn er es ja eher erfährt, als ich wünsche, so werden Henriettens Annehmlichkeiten mich gewiß bey ihm entschuldigen. Du solltest das Mädchen[157] sehen, und du würdest mich beneiden, wenn deine Marie nicht wäre. Adieu, Eduard. Störe mein Glück nicht durch unnöthige weise Anmerkungen. Sie würden sehr am unrechten Orte bey mir angebracht seyn.

Ferdinand.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 155-158.
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