Dreyunddreyßigster Brief

Karlsheim an Wilhelm

[175] Noch drey Tage, und ich bin auf ewig der Ihrige. O Wilhelm, oft ist dieser Gedanke der Wonne Quaal des Todes für mich. Und doch kann ich nicht zurück. Ich bin mit festen Ketten gleichsam angeschmiedet. Meine Zunge ist wie gelähmt, wenn ich reden will. Und nun ists auch zum Reden zu spät. Oft, wenn ich an des besten[175] Mädchens Seite sitze, entzückt von ihrem himmlischen Reiz, auch dann, selbst im Taumel der Liebe, erscheint mir Juliens Bild. Sophiens Kuß zaubert dann zwar den Schmerz von meiner Seele weg, aber in der Einsamkeit durchdringt er mich wieder.

Diese Nacht sah ich Julien, in ein Leichentuch gehüllt, auf mich zu gehen. Sie winkte mir, ich folgte ihr nach; sie verschwand, und ich sank in eine tiefe Gruft. Ich erwachte, und Todesschweiß stand auf meiner Stirn. Und noch schwebt immer die schreckliche Leichengestalt vor mir.

Wilhelm, wenn du noch mein Freund bist, so reise hin, schicke hin, erforsche ihren Aufenthalt; damit ich erfahre, ob sie lebt, oder ob ihr schöner Geist schon entflohen ist. Eher ist doch keine Ruhe für mich möglich.

Karlsheim.[176]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 175-177.
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