Vierunddreyßigster Brief

Sophie an Marien

[177] O Marie, hätte nicht dein sanfter Geist mich umschwebt, dein Edelmuth im Leiden meine Seele gestärkt, gewiß, so hätte ichs nicht überstanden. Nun ist es geschehen, es ist vorbey, und nur das Gefühl, gut und pflichtmäßig gehandelt zu haben, vermag mich aufzurichten.

Ich saß und nähte die letzten Stiche an den Bräutigamsmanschetten für Karlsheim, als ein fremdes Frauenzimmer um die Erlaubniß bitten ließ, ein paar Worte mit mir zu sprechen. Eine dunkle Ahndung durchschauerte mich.

Sie kam herein. Nie sah ich eine rührendere Gestalt. Ein Mädchen von mittler Größe, blondes Haar, große blaue Augen, die einen sehr melancholischen Ausdruck hatten, der von tiefem Gram zeigte, das einnehmendste Gesicht, Wangen, auf denen sonst Rosen geblüht zu haben[177] schienen, die aber jetzt die blasse Farbe des Kummers hatten. Ihre Blicke hatten einen Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann, und waren dabey so anziehend, daß man gleich alles hingegeben hätte, um den Schmerz zu heben, der sie niederzudrücken schien.

»Verzeihen Sie – sagte sie mit einnehmender, aber bebender Stimme – daß eine Unbekannte es wagt, sich Ihnen zu nähern; nur meine traurige Lage, und die vortreffliche Schilderung, die man mir von Ihrem Charakter gemacht hat, konnte mich so dreist machen.«

»So wenig auch meine eigne Ueberzeugung Ihre schmeichelhafte Meynung von mir rechtfertigt: so ist doch gewiß eine meiner Hauptneigungen die, jedem Kummer meines Nebenmenschen so viel beyzustehen, als es in meinen Kräften ist, und wenn nun vollends das Unglück in einer so einnehmenden Gestalt erscheint, wie[178] die Ihrige ist, wer würde da nicht aufs lebhafteste gerührt werden?«

»Ihre Güte, Mademoiselle, macht mir meinen Vortrag nur noch schwerer. O Gott, ich werde Ihr Glück, Ihre Ruhe untergraben! Ich werde – –«

»Sie machen mich zittern. Ach! nur eine Frage: Betrifft das, was Sie sagen wollen, Karlsheim

»Leider Ihn selbst! Glauben Sie sicher, mein Herz denkt gut genug, um meine Ruhe willig Ihrem. Glück, seinem Glück zu opfern; aber heiligere Pflichten, die Pflicht der Mutter gegen ein hülfloses Kind, heischen diesen Schritt von mir.«

»O Gott, ich errathe die ganze Geschichte. War das dein geheimer Kummer, Karlsheim? Verbargst du ein so unedles Herz unter der zärtlichsten schönsten Larve?«[179]

»Ists möglich? Er hatte Kummer? Ach! so dachte er noch vielleicht an die unglückliche Julie? – Darf ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen? Oder hassen Sie ein armes Mädchen, das eine so grausame Störerinn Ihres Glücks ist? –«

»Wie könnte ich Sie hassen, – (ich schloß sie mit Thränen in meine Arme –) weil Sie auch den liebenswürdig fanden, der es in so hohem Grade ist? Sagen Sie mir alles, ich bitte Sie darum.«

»Ich bin die Tochter eines Professors in L. In dem zartesten Alter verlor ich meine Mutter. Mein Vater war über diesen Verlust untröstlich, und wandte nun alle Sorgfalt, die ihm bey seinen Geschäften möglich war, auf meine Erziehung, die ihm die letzten Bitten der Sterbenden noch anempfohlen hatten. Mein sechzehntes Jahr rückte heran. Ich hatte Kenntnisse von mancherley Dingen, nur noch nicht[180] von Liebe. Ach! nur leider zu bald lernte ich auch diese kennen.

Mein Vater befahl mir einst, ein gutes Abendessen zu veranstalten, weil er den Sohn eines Freundes, der ihm empfohlen war, und bey uns wohnen sollte, erwarte. Der Erwartete kam. Ich sah ihn bey Tische, und fühlte ein gewisses Etwas, mir bisher unbekannt, bey seinem Anblicke. Ich hatte oft schon Männer gesehen, war oft von Ihnen geschmeichelt worden; aber mein Herz war bey allen ihren Galanterien gleichgültig. Noch nie hatte ich den Eindruck gefühlt, den jetzt Karlsheim auf mich machte. Noch niemals war ich so roth geworden, als eben diesen Abend, bey einem schmeichelhaften Lobspruch, den er von ohngefähr mir gab. Ich, die sonst gleich lebhafte – man sagte witzige Antworten fertig hatte, beantwortete das, was er mit mir sprach, mit so ungewohnter Blödigkeit, daß mein Vater mich durch die Frage –[181] ob mir was fehle? – noch verlegner machte. Auch Karlsheims Blicke waren beständig auf mich geheftet, und folgten jedem meiner Schritte.

Nach einigen Gesprächen, die den jungen Mann auch meinem Vater werth machten, kam man auf die englische Sprache. Mein Vater äußerte den Wunsch, mich darinn unterrichtet zu sehen. Karlsheim, der das Englische sehr gut verstand, erbot sich zu diesem Geschäfte. Er lehrte mich diese Sprache, und mit ihr die Liebe. Wie feurig übersetzte er mir die Dichter, die von Liebe sangen! Wie bald lernte ich sie verstehen! Mit welchem Antheil lasen wir eine gefühlvolle Stelle! Unsre Empfindungen trafen stets auf einen Punkt zusammen, und stimmten so ganz überein!

So schwanden zwey Jahre, durch die Freuden der Liebe beseligt, uns wie Augenblicke dahin. Karlsheims Abreise, und gränzenlosee[182] Kummer unsrer Herzen mit ihr, rückte heran. Wir saßen, in zärtlichen Unmuth versunken, einst in einer einsamen Laube. Es war der schönste Abend, den ich jemals sah; nur der Mond ließ seinen blassen Schimmer auf uns fallen. Unsre Empfindungen waren aufs höchste gespannt – ersparen Sie mir ein demüthigendes Bekenntniß – – Karlsheims Liebkosungen wurden mir zu mächtig, – dieser reine heitre Abend wurde das Ende meiner Ruhe. O wie oft habe ich nachher in deinem Schatten gekniet, einsame Laube, die du das Grab meiner Unschuld warest! Mit aufgehobnen Händen, mit thränenden Augen habe ich mich vor dir angeklagt, keuscher Mond, reine Gottheit, zu der ich nicht mehr hinaufzusehen wagte.

Der Gedanke, in Karlsheims Achtung verloren zu haben, machte mir seine Abreise noch quaalvoller. Er vernichtete meine Befürchtungen, schwur, daß seine Liebe ewig in ihm mit gleichem[183] Feuer leben würde, und unter den zärtlichsten Betheurungen steter Liebe und Treue verließ er mich, von seinen Küssen und Thränen bedeckt. Seine ersten Briefe athmeten lauter Zärtlichkeit. Sehen Sie selbst den Beweis in einem Schreiben von ihm, das ich immer noch als ein heiliges Andenken aufbewahre.«

»O Gott! – rief ich aus, wie ich ihn gelesen hatte – welch ein Brief! welche ein hinreißender Ton der Liebe! Nie las ich etwas Rührenders. Und dieses Feuer konnte erlöschen! Ach ich hätte ihm nach diesem Briefe ewige Dauer zugetraut.«

»Ja, Mademoiselle, auch ich glaubte, eher würde das Feuer der Sonne erkalten, als Karlsheims Liebe. Unglücklicher Wahn! Mein Vater starb plötzlich. Eine alte Tante nahm mich zu sich. Ich mußte mit ihr nach Holland reisen, und alles gieng so eilig zu, daß ich nicht vorher an Karlsheim schreiben konnte: denn[184] meine Tante – eine Feindinn aller Versprechungen, die eher als vier Wochen vor der Hochzeit geschahen – ließ mich nicht aus den Augen. Ich fand aber doch unterwegs Gelegenheit ihm zu schreiben. Ich schrieb noch zweymal, und erhielt auf keinen Brief Antwort.

Sein Schweigen bekümmerte mich sehr. Seine letzten Briefe waren schon minder feurig als die ersten; nun schrieb er mir gar nicht. Kein Wort des Trostes in dem Kummer um einen geliebten Vater, der erblichen war. Mir schien also seine Untreue gewiß. Und nun wurde noch das Trostlose meines Zustandes durch die Gewißheit vermehrt, mit der ich die Frucht meines Vergehens unter meinem Herzen fühlte. Ich verbarg meinen Zustand so lange als möglich meiner Tante, deren Härte in einem solchen Fall ich genug kannte. Endlich aber entdeckte sie selbst meine Schwangerschaft. Ich[185] warf mich zu ihren Füßen. Aber meine rührendsten Bitten, meine Thränen konnten sie nicht erweichen. Sie stieß mich fort, belegte mich mit niedrigen Schimpfnamen, und mit den härtesten Worten hieß sie mich aus dem Zimmer gehen.

Halb sinnlos gieng ich fort. Als ich mich wieder etwas gesammelt hatte, kam ich wieder vor ihr Zimmer, um noch einen Versuch zu machen. Aber ach! die Thüre war verschlossen. Sie ließ mir durch eine alte Magd sagen: ihr Haus würde mir nie wieder geöffnet werden; ich solle nur gleich meine Sachen zusammen suchen und mich fortpacken, mich auch nie wieder unterstehen, vor ihre Augen zu kommen; sie wolle einen solchen Nikel, der ihre Familie mit Schande belegte, nie wieder ansehen. Verzweiflungsvoll packte ich meine Sachen ein, entschlossen zu gehen, es sey wohin es wolle.

[186] Liese, ein junges Mädchen, das bey meiner Tante diente, kam herauf. Ich hatte sie oft bey meiner Tante vertreten, und ihr mancherley Dienste geleistet, für die ihr gutes Herz sich sehr dankbar gegen mich fühlte. Sie brachte mir zwanzig Louisd'or, die meine Tante noch in Betracht meines redlichen Vaters mir sandte. Seine Erbschaft hatte kaum hingereicht, die Schulden zu bezahlen, die er hinterließ; denn von einer uneinträglichen Bedienung hatte er viele Ausgaben zu bestreiten.

Das gute Mädchen – (wie ich hernach erfuhr, so hatte ich auch diese letzte Beysteuer meiner Tante ihr zu danken –) wurde durch meine traurige Lage sehr gerührt, und bot mir an: sie wolle mich in das Haus einer Verwandtinn bringen, die eine sehr ehrliche Frau sey; daselbst könnte ich meine Niederkunft halten. Ich nahm ihren Vorschlag mit Dankbarkeit an. Sie führte mich in ein armseliges Haus, und ließ[187] mir meinen Koffer nachbringen. Hier wohnte ich in einer erbärmlichen Kammer. Die treue Sorgfalt meiner ehrlichen Wirthinn suchte zwar meinen Zustand, welcher der Verzweiflung nahe war, etwas zu mildern, aber vergeblich. Mein Herz war jedem Troste verschlossen. Sobald ich mich wieder etwas besinnen konnte, schrieb ich noch einmal an Karlsheim. Selbst ein Ungeheuer würde durch diesen Brief bewegt worden seyn. Und doch bekam ich keine Antwort. Zur Ehre des menschlichen Herzens, das der Schöpfer gut und edel bildete, hoffe ich, daß er ihn nicht bekommen hat. Nein, gewiß, das hat er nicht. Seine Seele, den Eindrücken des Mitleids so offen, wäre gerührt worden. Wäre auch seine Liebe zu mir abgestorben gewesen, so hätte doch gewiß Menschlichkeit ihn zu mir geleitet. Der Gedanke an seine sonst so geliebte Julie, der er so oft schwur, sie sey ihm theurer als sein Leben, die mit so unbefangner Liebe an[188] ihm hieng, die noch jetzt willig sich selbst seinem Glück aufopfern würde, die in einer elenden Hütte den Schmerzen der Geburt fast unterlag; hätte sein Herz erschüttert; er wäre mir zugeeilt!

O! verzeihen Sie, meine Theure, daß meine Empfindungen so oft den Faden der Erzählung abreißen. Ich will mich bemühen, durch sie ungestört fortzufahren.

Ich kam mit einem Knaben nieder. Oft badete ich ihn mit meinen Thränen; oft auch war sein Anblick Erquickung in meinem Schmerz. Der Gedanke, dem Kinde, wenn es einst lallend nach seinem Vater mich fragen würde, nur mit Seufzern antworten zu können, war mir mehr als Todesquaal. Ich entschloß mich, so bald es meine Kräfte zuließen, nach meinem Vaterlande zu reisen, und Karlsheim aufzusuchen. Nach einem halben Jahre fühlte ich mich und das Kind erst stark genug, die Reise[189] auszuhalten. Mein Geld war geschmolzen. Ich hatte mich die Zeit über mit allerley Arbeiten genährt, die meine Wirthinn zum Verkaufe trug; denn ich schämte mich auszugehen. Aus dem Verkaufe meiner Sachen, von denen ich nur das Nothwendigste behielt, und aus der Veräußerung eines Ringes – eines theuren Andenkens meiner Mutter – lösete ich so viel, daß ich glaubte, die Reisekosten damit bestreiten zu können. Liese begleitete mich. Sie war bald nach meiner Abreise von meiner Tante verabschiedet, und wollte gern nach ihrem Vaterlande zurück. Es gieng meiner Schwächlichkeit und meines Kindes wegen sehr langsam. Endlich kam ich an den Gränzen meines Vaterlandes an. Ich sah die Thürme der Stadt, in der ich geboren ward, und durfte mich aus Furcht vor der Schande ihr nicht nähern. Die Erinnerung an alle Freuden meiner Jugend, die ich da genoß, drang in meine Seele; in[190] stummen Tiefsinn versenkt, saß ich auf dem Pestwagen.

Endlich kam ich in der Stadt an, wo Karlsheim wohnte. Ich schickte nach seinem Hause hin; aber, welch ein Schmerz für mich, die eine so weite beschwerliche Reise um ihn gemacht hatte! er war schon über ein Jahr von dem Orte weggezogen, und sein ehemaliger Wirth wußte auch nicht, wohin. Ich spähte einen Bekannten von ihm aus, und erfuhr von diesem, daß Karlsheim eine Reise in einige Städte Deutschlands gemacht, und seit kurzem in D. wohne, wo er eine Bedienung erhalten habe.

Nun glaubte ich die Erklärung seines Stillschweigens gefunden zu haben. Ich dachte ihn mir, voller Besorgniß über meinen Zustand, über meinen Aufenthalt, den er nicht hatte erfahren können. Ich malte mir mit den lebhaftesten Farben die Freude, die er empfinden[191] würde, wenn er mich wiedersähe. Mit einer Eile, die mir nicht einmal ein Nachtlager zu nehmen zuließ, reiste ich nach D. Und können Sie nun das Schrecken, die Verzweiflung sich denken, die mich überfiel, als ich hörte, in wenig Tagen würde seine Hochzeit seyn? Lange kämpfte ich mit mir, ob ich gehen und schweigen, und alle Gedanken auf den Besitz desjenigen wollte fahren lassen, dessen Liebe allein mich beglücken konnte, dessen Herz aber mir nicht mehr gehörte. Welch eine erbärmliche Verbindung, die Zwang und Mitleid schließen! Ich glaube, diese Vorstellungen hätten die Oberhand behalten. Ich würde, fern von ihm, mein unglückliches Schicksal beweint haben. Aber ein Blick auf mein Kind, auf das Elend, das seiner warten würde, wenn es vaterlos, ohne Unterstützung, einsam umher irrte! Und ich entschloß mich zu Ihnen zu gehen, deren Edelmuth man mir gerühmt hatte.[192]

Aber selbst jetzt noch liebe ich ihn zu sehr, um ihn zu einer Verbindung mit mir zu nöthigen, wenn sie nicht sein eigner Wunsch ist. Hat der Treulose mich ganz vergessen, bin ich ihm verhaßt, o! so soll meine Gegenwart ihn nicht quälen; er sorge nur für mein unglückliches Kind, und ich will die wenigen Tage, die der Gram meinem Leben noch übrig lassen wird, von ihm entfernt zubringen, und mich auf das stille Grab freuen, das alle Leiden der unglückchen Julie enden wird! –«

Sie zerfloß fast in Thränen. Auch ich war äußerst bewegt.

»Theure unglückliche Julie! Können Sie glauben, daß ich noch einen Gedanken an den Besitz desjenigen haben kann, der mit so vollem Recht Ihnen gehört? Er liebt Sie gewiß noch. Seine Unruhe zeigt es deutlich genug.«

»Ach! wenn das wahr wäre, Karlsheim! Nur ein zärtlicher Blick auf mich, auf dein Kind, und ich habe nichts gelitten.«[193]

»Wir wollen ihn erforschen. Erinnern Sie sich noch wohl des letzten Briefes, den Sie ihm aus Holland schrieben?«

»Ach! die Empfindungen, die ich damals aufs Papier brachte, stehen noch aufs lebhafteste vor meiner Einbildung.«

»Gut, liebste Julie, schildern Sie ihm Ihren damaligen Zustand noch einmal, so rührend wie Sie ihn mir erzählten. Wir wollen den Brief in einen Umschlag schließen, als sey er bis jetzt liegen geblieben, weil man nun erst erfahren habe, wo der wohne, an den er gerichtet sey. Er soll ihm, als käme er von der Post, in meiner Gegenwart eingehändigt werden. Ich will die Wirkungen beobachten, die er bey ihm hervorbringt, und wenn er dann in größter Angst wegen Ihres Schicksals schwebt, so sollen Sie ihm erscheinen.«

Julie war von Dank und Rührung so bewegt, daß sie kein Wort sagen konnte. Ich[194] ließ sie in ein andres Zimmer gehen. Unterdessen daß ich schrieb, ließ ich ihr Kind holen. Aber ich hatte noch ein schweres Geschäft vor mir: meinen Onkel in den Plan zu ziehen. Ich gieng zu ihm, und trug ihm die Sache vor. Er war sehr aufgebracht, wollte von keiner Trennung zwischen mir und Karlsheim hören, beschuldigte mich romanhafter Grillen, und schalt Julien für eine Landstreicherinn.

Ueberzeugt, daß ihr rührender Anblick mehr wirken würde, als meine Reden, führte ich ihn zu ihr, bat ihn aber inständig, ihrer zu schonen. Er stutzte, als er sie sah.

»Was sehe ich! Das Bild meines ehrlichen Behrwalds? O, sind Sie die Tochter des Mannes, der mein Busenfreund war, dem ich so vieles verdanke? Gott, ein unseliges Misverständniß mußte uns die letzten Jahre trennen. Sein Tod, den ich kürzlich erst erfuhr, hat mir manche bittre Stunde gemacht. Sie sind[195] die Julie, die ich als Kind so oft auf meinem Schooß hielt? Komm in meine Arme, liebes Mädchen, und erzähle mir selbst deine Geschichte.«

Ich war höchst erfreut über diese glückliche Wendung, und rettete Julien von einer nochmalen Wiederholung ihrer Begebenheit. Jetzt kam der kleine Junge. Nie sah ich ein liebenswürdigers Kind. Sein kleines Gesicht ist ganz der Abdruck von den Zügen seines Vaters. Eben dieses süße Lächeln, das Karlsheim so schön steht. Holder Knabe, bald, bald hätte ich deinen Vater dir entzogen! – Ach Marie, der Antheil an Juliens Schicksal, die Beschäftigung mit meinem Plan, alles das ließ mich damals nicht an mein eignes Herz denken. O, wie schäme ich mich jetzt oft seiner Schwäche! – Karlsheim kam. Wie liebenswürdig sah er aus! Das Bewußtseyn, daß seine Liekosungen mir nicht mehr gehörten, machte, daß ich dabey bebte.[196] Ich mußte mir viel Gewalt anthun, damit er meinen Zustand nicht merkte. Unter einem Vorwand verließ ich das Zimmer, und gieng durch eine andre Thür in meinen Alkoven, aus dem ich ihn genau beobachten konnte.

Man brachte ihm den Brief. Er öffnete ihn, wurde todtenblaß, als er die Hand erkannte, und sank ganz außer sich auf einen Stuhl. Er sprang wieder auf, gieng heftig im Zimmer umher, rang die Hände, rief einigemal Julie, und fiel wieder auf den Stuhl zurück. Sein Zustand gieng mir so nahe, daß ich nur mit äußerster Mühe mich enthielt ihm alles zu sagen. Aber ich überwand mich noch; denn er hatte diese Strafe verdient, und die Wirkung war desto besser, wenn er Julien nicht gleich sah. Ich gieng ins Zimmer.

»Was fehlt Ihnen, Karlsheim? Sie sind ja ganz außer sich.«[197]

»Lassen Sie mich, Sophie. Ich bin ein Ungeheuer, nicht werth, daß Sie mit mir reden! Gott! ist dieß das Traumbild, das mich schreckte? Gewiß ist sie todt. Julie! ich sehe deinen Schatten auf mich zueilen, o wie fürchterlich, wie bleich! Stoß mich hinab! Hinab in die Gruft mit dem Nichtswürdigen, der dich tödtete! Aber was seh ich? Du weinst, du winkst mir. Seliger Geist, Bild des sanften Engels, durch mich zu Grunde gerichtet, vergieb mir, ich folge dir nach.«

Mir ward bange für ihn.

»Karlsheim! theurer Karlsheim! kommen Sie zu sich, was ist Ihnen?«

»Da, lesen Sie, und verabscheuen mich Elenden. Verzeihen Sie mir, Sophie, ich bin außer mir.«

»Das sehe ich; aber, Karlsheim, ich sehe nicht, warum Sie es sind. Sie haben sich freylich gegen das Frauenzimmer, das diesen[198] Brief schrieb, nicht so betragen, wie Sie gesollt hätten. Aber jetzt muß alles unter Ihnen und ihr vorbey seyn. Sie sind mein verlobter Bräutigam: und ich habe die gerechtesten Ansprüche auf Sie.«

»Sophie! Ich verkenne Sie ganz. Nein, ich muß abreisen, um zu sehen, ob sie noch lebt, wo sie ist, wo das Kind ist, das sie mir gebar. Ach Gott! wahrscheinlich ist auch dieß kleine Schlachtopfer nicht mehr.«

»Was hör' ich! Sie wollten mich verlassen, und unser Hochzeittag ist schon bestimmt? Das geb' ich nie zu. Lebt das Kind noch, so wollen wir es zu uns nehmen, aber die Mutter – –«

»Soll in Elend und Schande verschmachten? Nein, Sophie. Ich bin Ihnen viel schuldig, Ihre Liebe hat mir glückliche Stunden gemacht; aber die arme Julie hat stärkere Ansprüche als Sie.«[199]

Ich glaubte nun Juliens Bitten, ihn auf eine starke Probe zu setzen, Genüge geleistet zu haben; auch weigerte sich meine Zunge, länger so ganz gegen meine Ueberzeugung zu sprechen. Unsrer Abrede gemäß hätte ich ihn zwar noch etwas ängstigen sollen – eigentlich war diese Abrede nur zwischen meinem Onkel und mir getroffen; denn Julie ist zu zärtlich und sanft, als daß sie Rache nehmen könnte – aber er war schon genug auf der Folter, und sein Schmerz gieng mir zu nahe.

Ich hieß ihn mit mir gehen, öffnete eine Thür, und nun sah er Julien, mit dem Kinde an ihrer Brust. Sie erwartete ihn nicht, und schrie laut, als sie ihn sah.

»Was seh' ich? Täuscht mich meine Phantasie? Sie ist es selbst! – Zu ihren Füßen: Julie, kannst du mir verzeihen?«

»O Karlsheim, o Geliebter! Wie belohnt mich dieser Augenblick für alles, was ich litt![200] Du liebst mich noch? Ich bin dir nicht ganz gleichgültig geworden?«

»Julie mir gleichgültig? – Engel, voller Huld und Sanftmuth, du vergiebst dem Reuvollen, dem Wiederkehrenden. An dieser himmlischen Güte erkenne ich meine Julie wieder.«

Er lag an ihrer Brust. Ihre Thränen vermischten sich mit den seinigen. O! gewiß, Engel sahen mit Wonne diesem Auftritt zu; der Allliebende selbst sah gewiß gütig auf ihn herab. Meine Seele fühlte sich erhoben; noch nie hatte ich eine reinere Freude, ein seligeres Gefühl geschmeckt. Alles, was ich je in Karlsheims Armen empfand, war nichts gegen die Zufriedenheit, die ich jetzt fühlte, als er bald mit Thränen der Zärtlichkeit das Kind an seine Brust drückte, bald wieder zur Mutter gieng. Doch, Marie, das muß empfunden, nicht erzählt werden. Das Bewußtseyn, gehandelt zu haben, wie ich sollte und mußte, beruhigt[201] mich auch jetzt, wenn zuweilen ein schwermüthiger Gedanke mich überfällt.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 177-202.
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