Fünfunddreyßigster Brief

Marie an Sophien

[202] Wie soll ich Sie genug bewundern, vorireffliche Freundinn? Ich wußte immer, daß Sie das beste liebenswürdigste Herz besaßen, aber so viel Stärke des Geistes, so viel Edelmuth hätte ich kaum von Ihnen erwartet. Der Segen des Himmels belohne dich, herrliches Mädchen! Gewiß fühlst du jetzt größere Wonne über deine edle Handlung, die einem unglücklichen Mädchen ihren Geliebten, einem verwaisten Kinde seinen Vater wieder gab, als du je würdest gefühlt haben, wenn Karlsheim der Deinige geworden wäre. Julie muß ein liebes Geschöpf seyn. Ihr Unglück hat mich bis zu Thränen gerührt.[202] Dem Himmel sey Dank, daß Karlsheim sie noch liebt; sonst wäre das arme Geschöpf doch unglücklich. Denn welch ein Schmerz kann größer für eine empfindliche Seele seyn, als der, einem Gatten anzugehören, der gleichgültig gegen uns ist, den bloßes Mitleid zu uns leitete, und dem wir es täglich anmerken, daß ihn die Verbindung mit uns gereut?

Sophie, führen Sie mich ja nie mehr als ein Muster an. Sie wissen nicht, was für beschämende Gefühle Sie dadurch in mir erwecken. Ich fühle es nur zu sehr, daß ich weit unter Ihnen stehe. Nie, o! nie werde ich Ihre Stärke des Geistes im Leiden haben. Denken Sie, wie schwach ich bin. Juliens Geschichte, statt mich zu heilen, erinnerte mich nur lebhaft an mein Schicksal, an meinen Eduard: und die Thränen, die ich vergoß, flossen nicht allein ihr; der größte Theil davon gehörte ihm. Haben Sie Geduld mit mir, Sophie, mein Körper[203] ist sehr schwach. O! daß Sie doch zu mir kämen, und Beruhigung in meine Seele flößten, die des Trostes so sehr bedarf! Mit inniger Zärtlichkeit würde ich Sie an meine Brust drücken, und die Freude, Sie zu sehen, würde mich gewiß sehr erheitern. Erfüllen Sie, wenn es möglich ist, die Bitte

Ihrer

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 202-204.
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