Siebenunddreyßigster Brief

Karlsheim an Wilhelm

[210] Vergieb mir, Wilhelm, wenn es mir unmöglich ist, dir heute etwas Zusammenhängendes zu schreiben. Die himmlische Güte meiner wiedergefundnen Julie, die mir alles vergiebt, und mich noch eben so zärtlich liebt wie sonst, die mir bisher unbekannten, unbeschreiblich süßen Vaterfreuden, Sophiens beyspiellose Großmuth, alles[210] das macht einen zu mächtigen Eindruck auf mich. Ewige Vorsehung! wie sind deine Wege so unerforschlich, und doch so weise! Mit heißester Inbrunst danke ich dir, daß du mir Unwürdigen noch ein solches Glück bereitetest, bey dem keine Gewissensbisse mich beunruhigen werden, daß du noch zu rechter Zeit mich rettetest.

Gott, noch zwey Tage, und es wäre zu spät gewesen. Eine fürchterliche Reihe schrecklicher Vorwürfe hätte dann ewig mich gemartert. Eine durch mich elend gemachte Mutter; ein verwaistes Kind; eine Gattinn, der mein Anblick mit jedem Tage Kummer und Abscheu eingeflößt haben würde! Ich mag nicht daran denken. Dank dir, gütiger Gott, daß du von diesem Abgrunde mich zurückzogst.

Liebster, bester Freund, komm zu mir, daß ich auch dich um Vergebung bitte, dich, dessen treuen Rath ich nicht hörte, daß ich alle Empfindungen meines Herzens vor dir ausschütten[211] kann. Nicht ich allein, auch meine geliebte Julie, Sophie und ihr trefflicher Onkel sehen dir mit Verlangen entgegen.

Dein glücklicher

Karlsheim.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 210-212.
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