Vierter Brief

Marie an Sophien

[31] Hätte ich doch nicht gedacht, daß meine Prophezeihung so bald bey Ihnen eintreffen würde! Ich glaube, Sie haben in Ihrem ganzen Leben von allen Mannspersonen, zusammen genommen, noch nicht so viel gutes gesagt, als Sie mir jetzt in einem Briefe von Karlsheim schreihen. Eine große Ehre für ihn! Doch muß ich gestehen, daß es mir scheint, nach verschiednen Zügen zu urtheilen, die Sie mir von ihm schreiben, als wenn er Ihres Beyfalls vollkommen würdig ist. Ich beklage nur den armen Herrn Sternfeld. In einem bogenlangen Briefe gedenkt Sophie seiner mit keinem Worte. Der arme Mann! Es ist aber doch ein sichres Zeichen, daß Ihr Geist und Herz ganz mit andern Dingen beschäftigt gewesen ist; sonst wäre doch wohl wenigstens sein[31] Name einmal genannt worden. Quälen Sie ihn nur nicht lange, und geben ihm bald seinen Abschied, denn das haben Sie ja doch wohl beschlossen. Und alsdann wünsche ich, daß der kleine Liebesgott sein bald das Herz Ihres neuen Verehrers mit dem Ihrigen zusammen bringen möge. Aber nun auch ein Wörtchen im Ernst mit meiner Freundinn. Karlsheim scheint zwar ein liebenswürdiger Junge zu seyn. Erkundigen Sie sich aber doch erst etwas näher nach seinem Charakter; suchen Sie zu erforschen, ob seine Liebe wirklich standhaft und zärtlich ist, oder ob sie nur ein vorübergehendes Gefühl, eine Aufwallung seines vielleicht zur Liebe geneigten Herzens war, damit Sie nicht nachher bereuen mögen, Ihre Liebe zu voreilig ihm geschenkt zu haben.

Verzeihen Sie diese Erinnerungen, meine Liebe. Sie scheinen Ihnen vielleicht eben so überflüßig, als sie es den meisten Mädchen zu[32] seyn scheinen, wenn sie lieben. Das junge Herz, zum erstenmal von den Eindrücken der Liebe bezaubert, hält diese für ewig. Ihr Geliebter widerlegt jeden Zweifel, der etwa bey ihr aufkeimen könnte, und schwört ihr die festesten Versichrungen immerdaurender Liebe. Vielleicht meynt er es wirklich redlich, glaubt in diesem Augenblick, daß nie etwas fähig seyn würde, seine Zärtlichkeit zu schwächen; aber ach! sein Herz, schwach und unerfahren, wird von einem andern Gegenstande hingerissen; er verläßt die Erstgeliebte, und widmet die Neigungen, von deren ewiger Dauer sie so gewiß überzeugt zu seyn glaubte, einer Andern. Ach Sophie, ich werde zu stark von diesem Bilde angegriffen. O Gott, warum mußte dieß auch meine Geschichte seyn? Doch, weg mit diesen Gedanken! Sie sind nicht mehr für mich. Ach! da höre ich meinen Albrecht kom men, ich will mich bemühen, mich bey ihm[33] zu zerstreuen. Schreiben Sie mir doch bald wieder, liebe Sophie. In Herzensangelenheiten müssen wir doch eine Vertraute haben. Und die werde ich doch bey Ihnen seyn?

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 31-34.
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