Einundvierzigster Brief

Der alte Gudheim an seinen Sohn

[228] Ungerathner Bösewicht, den ich nicht mehr meinen Sohn nennen kann, der mein graues Haar vor der Zeit in die Grube bringt! O daß ich das an dem Jungen erleben muß, der meine einzige Freude war, von dem ich hoffte, er würde mein Alter mir versüßen, und mein Trost im Leiden seyn! Aber nein! Ich habe dem Ungeheuer schon zu lange gelebt. Er konnte meinen Tod nicht erwarten, und sucht ihn durch seine schändliche Aufführung zu beschleunigen. Das ist dir nun zwar gelungen – ich fühle, daß ich dieses nicht lange überleben werde; – aber die Früchte, die du von meinem Tode hoffest, sollst du nicht genießen. Ich habe dich nichtswürdigen Buben enterbt, und mein Vermögen zu andern Endzwecken bestimmt, damit es doch nicht in lüderlichen Wollüsten verschwendet wird. Untersteh[228] dich nicht, mir jemals wieder vor Augen zu kommen. Dein Anblick würde mich auf der Stelle tödten. Meine alte Hand zittert mehr zu schreiben; ich muß aufhören, an den Bösewicht zu denken, dem ich das Leben gab.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 228-229.
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