Zweyundvierzigster Brief

Barthold an Eduard

[229] O Gott, Eduard, was ist aus dem armen Ferdinand geworden! Eben bringt man mir die Erlaubniß wiederum auszugehen. Ich laufe zu Ferdinand. Das ganze Haus und die Wache ist in Aufruhr. Er ist in der Nacht entwischt, und niemand weiß, wohin. Auf dem Tische lag ein kleiner Zettel des Inhalts:

»Verzweiflung und Schande treiben mich von hier. Verflucht seyn meine Verführer, mein verdammtes Schicksal und ich selbst! –«[229]

Der arme Junge! Gewiß hat ihn seines Vaters harter Brief zu dem verzweifelnden Entschluß bewogen. Wer weiß, was nun aus dem Unglücklichen wird! O ich Thor, daß ich ihm den Brief gab! Ach! ich dachte nicht, daß er eine solche Wirkung haben würde. O Ferdinand! wärst du doch wieder da! Könnte ich mein Versehen wieder gut machen! Man setzt ihm scharf nach. Hascht man ihn wieder, so wird seine Strafe sehr vergrößert seyn.

Gott, welch ein neuer Auftritt! Sein Vater ist hier. Gleich nachdem er seinen harten Brief abgesandt hatte, bereute ers. Er hatte sich die Verzweiflung seines Ferdinands vorgestellt. Seine Liebe war wie der aufgewacht, und hatte ihn hergetrieben. Nun hört er die Entweichung seines Sohns. O! du solltest den alten Mann sehen, wie er winselt und die Hände ringt, wie er sich die größten Vorwürfe über seine Härte[230] macht. Sein Zustand rührt auch die Wildesten zu Thränen.

Klinge ist auf Bitten seines Vaters auf zehn Jahre ins Zuchthaus verbannt. Man hat noch schändliche Dinge von ihm entdeckt. Zwey seiner Bekannten, die auch mit in Ferdinands Geschichte verwickelt waren, sind relegirt. Alle diese schrecklichen Auftritte haben mich so erschüttert, daß ich meinen Brief schließen muß.

Barthold.


N. S. Wie kömmts, daß ich so lange nichts von dir hörte?

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 229-231.
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