Sechsundvierzigster Brief

Sophie an Julien

[253] Ihre zärtliche Freundschaft, meine Julie, ist gewiß bey dem heftigen Gewitter für mich besorgt gewesen. Wir bekamen es auch wirklich unterwegs.[253] Bey unsrer Abreise war der Himmel so schön und heiter, daß auch wir diese Stimmung annahmen. Auf einmal erschienen Wolken. Es wurde fürchterlich dunkel; die Arbeiter eilten alle von den Feldern; sogar die Vögel schienen in ihre Wohnungen zu fliehen. Wir stiegen aus, und indem zersplitterte ein starker Schlag die majestätische alte Eiche, unter deren Zweigen wir Schutz suchten. Unsre Pferde wurden flüchtig, und liefen mit dem Kutscher und Wagen davon.

Ich war ganz betäubt, und mein Onkel schleppte mich mit vieler Mühe fort, um mit mir auf ein Dorf zu kommen, welches wir vor uns liegen sahen. Es fiel ein starker Platzregen, der den Erdboden so glatt machte, daß ich bey jedem Schritt wieder zurücksank. Endlich kamen wir abgemattet und durchnäßt in einem Bauernhause an. Ohngeachtet es schon dunkel war, sandten wir doch gleich einen Boten – der sich[254] freylich nur durch vieles Bitten und Geld dazu brauchen ließ – nach unserm Kutscher und Wagen aus. Man fand bey des am Fuße eines steilen Bergs, den die Pferde herunter gestürzt waren. Der arme Friedrich lag ganz zerquetsche da, gab aber doch noch Zeichen des Lebens von sich. Ich machte ihm Umschläge von warmem Wein, und schickte nach einem Chirurgus. Dieser giebt zwar Hoffnung zu seiner Genesung, aber ein Bein wird er wohl verlieren. Der arme Kerl! Es war eine gute treue Seele; sein Schicksal geht mir nahe. Denn wenn auch mein Onkel für seinen lebenslangen Unterhalt sorgt, so ist doch nichts vermögend, ihm den Verlust seiner Gesundheit zu ersetzen.

Ach! man sollte doch ja stets gut und liebreich gegen Dienstboten seyn. Diese armen Leute müssen sich für uns so manchen Gefahren ausfetzen, und doch belohnen wir sie gewöhnlich nur mit Härte und Unterdrückung, sind so besorgt,[255] Ihnen jede kleine Lebensfreude zu verbittern, und sie stets die tiefe Abhängigkeit fühlen zu lassen, in der sie gegen uns stehen. Ein liebreiches und sich immer gleiches ernstes Betragen würde uns die Herzen dieser armen Menschen gewinnen, und weit besser auf sie wirken, als die große Strenge, mit der wir gegen sie verfahren. Aber leider sind sie der Gegenstand, an dem man gewöhnlich jede üble Laune ausläßt; und indem manche oft zu andern Zeiten allzugroße Vertraulichkeit gegen sie hegen, und ihnen Geheimnisse aller Art anvertrauen, machen sie dieselben falsch und niederträchtig, und setzen sich allen Folgen der Geschwätzigkeit ihres Gesindes aus. Es ist wahr, es ist sehr schwer, die Mittelstraße zwischen Familiarität und zu großer Entfernung zu halten. Beydes verdirbt gleichviel.

Ich glaube, man muß mit seinen Leuten nicht mehr reden, als die Umstände nöthig machen, aber dieses Wenige mit Güte und Sanftmuth.[256] Man muß sie nie zu Vertrauten seiner eignen Handlungen machen, wohl aber in den ihrigen ihnen mit Rath beystehen. Man muß nie befehlen, ohne erst den Befehl gehörig überlegt zu haben, damit man nicht oft nöthig hat zu widerrufen; dadurch verliert er sonst den Eindruck, und wir gerathen bey ihnen in Verdacht, daß wir ohne Grund befehlen, und bloß unsern Launen folgen, und dieses macht sie unwillig uns zu gehorchen. Man muß ihnen aber doch auch zu Zeiten erlauben, uns in Dingen, worinn sie mehr Erfahrung haben, als wir, mit Bescheidenheit Gründe anzuführen, wenn ihnen das, was wir befohlen, nicht vortheilhaft für uns scheint. Und alsdann muß man auch nicht hartnäckig seyn, ihrem Rathe zu folgen, wenn er wirklich gut ist. Dieses hat für uns einen vorzüglichen Nutzen, wenn wir Neuerungen oder Abweichungen ihrer gewöhnlichen Art zu handeln von Ihnen fodern, weil uns alsdann ihre Einwendungen[257] Gelegenheit geben, sie desto besser von unsrer Sache zu überzeugen. Merkt man aber, daß sie sich uns aus bloßem Eigensinn und Verdrossenheit widersetzen, so muß man sie strenge anhalten, uns genaue Folge zu leisten.

Versehen sie etwas, so verweise man es ihnen nach Maaßgabe des Fehlers, doch ohne Schimpfreden; denn diese erniedrigen uns bis zu ihnen, oft unter sie, machen uns verächtlich, und dienen nur, sie zu erbittern und boshaft zu machen. Uebrigens halte man sie gut im Essen und Trinken, gebe ihnen einen guten Lohn – denn das sind die Dinge, die vorzüglichen Eindruck auf sie machen, weil alle ihre Handlungen hauptsächlich durch sinnliche Gefühle geleitet werden – halte sie aber auch dafür zu strenger Ordnung und Arbeitsamkeit in Geschäften an. Man gewöhne sie durch sein Beyspiel zur Reinlichkeit; man halte sie zu den Uebungen der Religion an, und zeige ihnen, daß man selbst Gott von ganzem[258] Herzen verehrt. Beobachtet man dieses Betragen, so wird man gewiß selten Klagen über das Gesinde zu führen brauchen. –

Ich sehe Ihr Erstaunen über meine Weisheit, liebe Julie, denn man ist sonst eben nicht gewohnt, dergleichen ernsthafte Betrachtungen aus meinem Gehirne kommen zu sehen. Ich will Ihnen auch nur lieber gleich gestehen, daß ich mit einem fremden Kalbe gepflügt habe, und daß ich Sie nur überraschen wollte. Hören Sie also an:

Wir giengen, wie ich Ihnen schon erzählt habe, in ein Bauernhaus. Aber dieses Haus hatte nur eine Stube, und diese Stube war so voll von Alten und Kindern, von Knechten und Mägden, daß es unmöglich war, noch ein Plätzchen für uns darinn zu finden.

»Ist denn hier im Dorfe kein gutes Wirthshaus? fragte mein Onkel.«[259]

»Nein! für vornehme Leute ist es wohl eben nicht eingerichtet, denn es trifft sich sehr selten, daß jemand hier ein Nachtlager sucht.«

»Weißt du was, Christoffel, – sprach die Frau – bring sie hin nach der Pfarre. Da unser Pastor und die Frau Pastorinn so liebreich gegen unser einen sind, so werden sie es ja auch gegen diese Fremden seyn. –«

Nun sprachen auf weiteres Nachfragen meines Onkels alle die Bauern mit solcher Ehrfurcht und Liebe von ihrem Pfarrherrn, daß wir begierig wurden, diese Familie kennen zu lernen. Wir ließen uns also hinführen. Sie schienen eben zu Bette gehen zu wollen; als wir aber den Unfall erzählten, der uns hergeführt hatte, empfiengen sie uns sehr freundlich. Die Pastorinn besorgte reine Wäsche und trockne Kleider für uns, und war so gütig, uns mit einer stärkenden Suppe, die sie sehr geschwind verfertigte, zu erquicken.[260]

Der Pfarrer ist ein Mann von sechzig Jahren, aber noch so stark und munter, als wäre er erst vierzig. Eine stete Heiterkeit, ein heller Verstand, Kenntnisse mit Erfahrung vereinigt, machen ihn zum angenehmsten Gesellschafter. Er ist nun schon vierunddreyßig Jahre Prediger in diesem Dorfe, welches wegen der schlechten und rauhen Lebensart seiner Einwohner bekannt war. Er hatte erst einige saure Jahre; aber zuletzt gelang es ihm, durch unermüdeten Fleiß, durch stete Leutseligkeit, und vorzüglich durch seinen frommen Wandel, die Herzen seiner Bauern zu gewinnen. Er gieng oft selbst zu ihnen, erzählte von seinen Universitätsjahren, von seinen Reisen, und, ohne daß sie selbst seine Absicht merkten, wußte er beständig gute Lehren in seine Erzählungen zu mischen, und so besserte er zugleich ihr Herz, und klärte ihren Verstand auf. Seine Predigten waren stets faßlich, und griffen an das Herz. Im Anfange giengen die Bauern selten[261] zur Kirche, jetzt aber war es ein Wunder, wenn Sonntags mehr als einer in einem Hause zurück blieb. Man konnte dann gewiß auf eine Krankheit rechnen.

Der Kranken nahm sich die Frau Pastorinn vorzüglich an. Sie pflegte und wartete sie selbst mit unermüdeter Sorgfalt, erquickte sie durch stärkende Speisen, und war bemüht die Vorurtheile auszurotten, welche gewöhnlich die Krankheiten dieser Leute hartnäckig zu machen pflegen.

Auch in der Kinderzucht machte sie manche heilsame Veränderung. Die Kinder waren bisher bis ins zwölfte Jahr ganz ohne Aufsicht, wie das liebe Vieh, umher gelaufen, und wußten, wenn sie confirmirt wurden, kaum die zehn Gebote und die drey Glaubensartikel papageyenmäßig herzuplappern. Der Pfarrer setzte einen wackern Schulmeister her, der die Kinder treu und gut unterrichtete, und sie lesen lehrte. Nachher machte er selbst ihnen die heiligen Wahrheiten[262] unsrer Religion bekannt; er brachte ihnen auch in einer andern Stunde die nöthigen Kenntnisse vom Feldbau bey, und lehrte sie oft in Spaziergängen aufs freye Feld die Weisheit und Größe des Schöpfers bewundern.

Die Frau Pastorinn lehrte zu gewissen Stunden des Tags die Mädchen allerley weibliche Arbeiten, und sie hat die jungen Bäuerinnen wirklich so weit gebracht, daß sie jetzt jährlich durch Weißnähen große Summen aus der Stadt verdienen. Auch verfertigen sie alle ihre Kleidungsstücken selbst, und sogar der Mannspersonen ihre.

»Aber – so unterbrach ich sie – wo nehmen sie denn die Zeit dazu her? Leidet nicht die Haushaltung und die Feldarbeit darunter? Ihr Einwurf, meine Liebe, ist sehr vernünftig. Wenn nicht die Zeit zu solchen Arbeiten auf eine andre Art erspart würde, so wären diese Beschäftigungen sehr schädlich für meine Landleute, und der Gewinn ihrer Arbeit würde lange nicht[263] hinreichen, den Schaden zu ersetzen, der aus der Vernachläßigung ihrer Haushaltung entstünde. – Sonst brachten die Bäuerinnen wöchentlich drey halbe Tage damit zu, um dem wollüstigen Städter an den Wochenmärkten die Lebensmittel aus ihrer Haushaltung zuzutragen, die sie oft sich selbst entzogen. Dieses hat viele schädliche Folgen für sie. Sie nehmen dadurch manche üppige Stadtsitte an, sie werden zum Wohlleben gewöhnt, lernen allerley Bedürfnisse kennen, von denen sie vorher nichts wußten. Wenigstens ein Drittel dessen, was sie lösen, wird für Näschereyen oder andre eben so entbehrliche Dinge ausgegeben. Sie bekommen Geschmack am Müssiggehen und Herumschlendern, und entblößen ihre Haushaltung von allerley nöthigen Sachen, die sie selbst brauchen müßten, theils aus Geldgier, theils um nur einen Vorwand zu haben, nach der Stadt zu gehen, mancher andern schädlichen Folgen nicht[264] einmal zu gedenken. Es hat mir unsägliche Mühe gekostet, diesen üblen Gebrauch abzustellen; aber endlich bin ich doch, mit Hülfe meines Mannes, durchgedrungen.«

»Aber wo lassen denn die Bauern das, was sie überflüßig haben? Oder bauen sie nicht mehr Früchte als sie brauchen?«

»Gerade umgekehrt. Sie bauen mehr zum Verkaufe als sonst. Jeder sammelt seine Eyer, seine Butter, seine Gartenfrüchte, und was er sonst Entbehrliches hat, zusammen. Alle Monate gehen zwey Fuhren von hier ab, nach einer Stadt, die eine Stunde weiter von hier entfernt liegt, als die, nach welcher sonst die Bauern giengen, und in der man die Victualien nicht so theuer bezahlte. Auf diesen Wagen packt nun jeder seinen Vorrath besonders zusammen. Zwey bejahrte Männer und Frauen, welchen die Dorfschaft dafür eine gewisse kleine Einnahme giebt, und die wegen ihrer Ehrlichkeit[265] bekannt sind, fahren mit, und verkaufen die Sachen. Ein jeder bekömmt das, was aus seinem Vorrathe gelöset ist, und hat den Vortheil, das Geld auf einem Haufen einzunehmen, das er sonst groschenweise einnahm, und wieder durch die Finger gehen ließ, ohne großen Nutzen davon zu haben. So aber, da er mehr auf einmal einnimmt, wendet er das Geld an, die großen Punkte seiner Ausgaben damit zu bestreiten und vertändelt nichts davon. Die Weiber bringen die Zeit, welche sie sonst zu ihren Wanderungen nach der Stadt brauchten, mit Nähen zu, und auch die kleinen Kinder, die sonst sehr lange müßig herum liefen, werden gleich früh zur Arbeitsamkeit gewöhnt.

Auch den Juden, und den herumziehenden Galanteriekrämern, die sonst unsern Landleuten manchen Groschen und Thaler für unnütze Waaren abschwatzten, und ihnen für ihr baares Geld den Ausschuß dessen gaben, was der Städter[266] nicht wollte, haben wir den Eingang verschlossen. Dasjenige, was unsre Einwohner an Kleidungsstücken nothwendig brauchen, lasse ich in Quantität kommen, und sie stehen sich viel besser dabey. Dieses ist aber ein seltner Fall; denn die meisten Kleidungsstücke, die hier die Männer und Weiber tragen, bestehen aus Zeugen, die ich sie selbst machen lehrte, und die, ihrer Stärke und ihres guten Aussehens wegen, auch außerhalb dieses Dorfs von ihnen verkauft werden.«

Ich hörte dieser Frau mit Aufmerksamkeit und Bewundrung zu. Sie sagte dieses alles gar nicht im Lehrton, oder mit einem gewissen ruhmredigen Wesen, sondern ihr Vortrag war so sanft und leutselig, daß es immer schien, als wollte sie in manchen Dingen mich um meine Meynung fragen, und sich daraus belehren.

Auf mein Befragen erzählte sie mir denn auch ihre Verfahrungsart mit ihrem Gesinde, – deren[267] ich oben gedacht habe. Nur vermag ich nicht ihren schönen faßlichen Vortrag nachzuahmen. –

»Auf diese Art, sprach sie, gelingt es mir, stets gute Leute zu haben, die sich nur dann von mir trennen, wenn sie heyrathen. Dieses geschieht nun zwar häufig; denn da ich immer junge Mädchen in meine Dienste nehme, die ich unterweise, so drängen die Alten unsers Dorfs ihre Söhne, ihnen diese Mädchen zu Schwiegertöchtern zu geben. Die jungen Kerls bewerben sich auch von selbst lieber um sie, als um andre, weil sie gute arbeitsame Haushälterinnen von ihnen erwarten.«

– Es ist eine Lust, zu sehen, wie flink und reinlich die Mädchen der Pastorinn sind –

»Es ist zwar etwas lästig für mich, so oft neue Mädchen zu haben, die ich denn immer erst an meine Art gewöhnen muß; aber ich nehme diese Mühe gern über mich, und die Mädchen erleichtern sie mir auch durch ihre[268] Willfährigkeit und Aufmerksamkeit; denn jede freuet sich, wenn ich sie in Dienste verlange. Gewöhnlich aber wähle ich die Unwissendsten dazu, um unser Dorf, so viel möglich, mit lauter guten Hausfrauen zu versehen.«

Diese bescheidne Frau sagte mir nicht einmal alles. Sie giebt jedem dieser Mädchen eine artige Aussteuer mit, und theilt überhaupt große Wohlthaten im Dorfe aus. Die jungen Bäuerinnen, die sich verheyrathen wollen, läßt sie zu sich kommen, und unterrichtet sie in den neuen Pflichten, die im Ehestand ihrer warten. Der Pfarrer thut ein Gleiches mit den jungen Burschen. Alle Einwohner verehren auch diese trefflichen Menschen fast bis zur Anbetung, und würden willig ihr Leben für sie lassen. Das ganze Dorf ist in einem blühenden Zustande; den Armen hat man Arbeit und Unterhalt zu verschaffen gewußt, und ein vorsätzlicher Müssiggänger wird auf das härteste bestraft.[269]

Ich bin von den tiefen Eindrücken, die diese ehrwürdige Frau auf mich gemacht hat, ganz durchdrungen. Gott, was ist doch eine solche Person, die mit vernünftig geleiteten Empfindungen dem menschlichen Uebel abzuhelfen sucht, gegen eine empfindsame Seele, wie es deren so viele giebt, die zwar aufs innigste von dem Elend ihrer Nebenmenschen gerührt werden, und deren Herz allen Eindrücken des Guten offen steht, die es aber bloß beym Empfinden bewenden lassen, ohne durch thätige Hülfe dem Nächsten beyzustehen!

Welches Verdienst ist größer: derjenigen ihres, die bloß innige schöne Empfindungen hat, ohne denselben gemäß zu handeln, oder das Verdienst der andern, die mit minder starkem Gefühl gute und nützliche Handlungen verrichtet? Welches Empfinden ist das wahre? Welcher Lohn wird in der Ewigkeit größer seyn?

Ich erstaune selbst über meine ernsthaften Betrachtungen. Sonst waren mir solche gar nicht[270] eigen. Aber das Bild dieser Matrone, die mit jedem Tage neue Früchte für die Ewigkeit einsammelt, hat meine Seele durchdrungen, und ich bitte Gott, daß er auch mich fähig mache, meinen Nebenmenschen wirklich Gutes zu thun, damit auch ich einem so freudigen Alter entgegen sehen kann. Auf dem Todbette dieser würdigen Matrone werden viele Gebete derer, welchen sie Gutes that, mit den ihrigen vereint, zu Gott empor steigen, und unter heißen ungeheuchelten Zähren und Dankgebeten wird ihr seliger Geist zu Gottes Thron hinauf eilen. O möchte ich doch auch einst mit einer so himmlischen Freude meinem Tode entgegen sehen können!

Es stand ein Klavier im Zimmer, auf dem die Gellertschen Oden mit der Bachischen Composition aufgeschlagen lagen. O Julie, könnte ich Ihnen den herrlichen Ausdruck beschreiben, der das Gesicht des Greises und seiner Gattinn beseelte, als er das unnachahmlich schöne Lied:[271] Trost des ewigen Lebens – spielte und sang, und nun auf den Vers kam:


»Dann ruft, o möchte Gott es geben!

Vielleicht auch mir ein Selger zu:

Heil sey dir; denn du hast mein Leben,

Die Seele mir gerettet, du!

O Gott, wie muß das Glück erfreun,

Der Retter einer Seele seyn!«


Wir mußten bis den andern Mittag in Berghausen (– so heißt das Dorf –) bleiben, weil unser zerbrochner Wagen ausgebessert werden mußte. Mit äußerster Rührung trennte ich mich von diesen vortrefflichen Leuten. Sie umarmten mich; und ich empfieng ihren Kuß mit Ehrfurcht, und erhielt von ihnen die Erlaubniß bald wieder kommen zu dürfen, um mich durch ihren Umgang aufs neue im Guten zu stärken.

Ein unangenehmer Zufall hält uns auch noch eine Stunde unterwegs auf. In so fern ist es mir zwar lieb, weil ich dadurch Gelegenheit habe,[272] Ihnen, liebe Freundinn, zu schreiben; aber ich besorge nur, daß sich das zärtliche Herz meiner Marie über meine verzögerte Ankunft ängstigen wird. Leben Sie wohl, liebe Julie, der Fuhrmann ruft mich vom Schreiben ab.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 253-273.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon