Siebenundvierzigster Brief

Sophie an Julien

[273] Gott! wie hat mich Mariens Anblick erschreckt! Wie blaß, wie abgezehrt sieht sie aus! Ich kannte sie kaum mehr. Ihr Leiden scheint ihre Gesundheit ganz zu Grunde gerichtet zu haben. Sie freute sich sehr über meine Ankunft; aber selbst in ihrer Freude war etwas Krankes. O! hätte sie etwas mehr Gewalt über ihr Herz und weniger Empfindsamkeit: so wäre sie ein unverbesserliches Muster für unser Geschlecht. Sie hat die größte Anlage zum Edeln und Guten, und würde[273] täglich die herrlichsten Handlungen verrichten; nur Schade, daß sie vor allzuvielem Gefühl selten zum Handeln kömmt.

Ich werde alles Mögliche anwenden, sie zu zerstreuen, und ihren Geist auf andre Gegenstände zu leiten; aber ich fürchte fast, daß ich vergebens arbeiten werde, denn Eduard sitzt zu fest in ihrer Seele. Wäre er ihrer werth, so würde ich ihr noch eher verzeihen; aber einen Ungetreuen, der sie so bald vergessen konnte, noch nach Jahren zu lieben, durch das bloße Lesen eines ehemals von ihm geschriebnen Briefs wiederum so zu ihm hingezogen zu werden, als wären sie beyde im stärksten Zeitpunkte der Liebe, das kann ich meiner Marie, so sehr ich sie auch liebe, nicht vergeben. Ich muß diese Gedanken sorgfältig vor ihr verbergen.

Heute beleidigte ich sie dadurch, daß ich etwas davon gegen sie äußerte. Mit Thränen verließ sie das Zimmer, und ich machte mir selbst[274] den Vorwurf, daß ich vielleicht nicht fein genug in der Behandlung eines leidenden Herzens gewesen war. Von ihrem Kummer durchörungen, folgte ich ihr nach, und wollte sie durch die zärtlichsten Bitten wieder beruhigen; aber ehe ich zum Reden kommen konnte, warf sie sich um meinen Hals, und bat mich, ihr zu verzeihen, wenn sie mich durch ihre schleunige Entfernung beleidigt hätte. Sie fühle leider, daß meine Vorwürfe nur allzugegründet wären, und beweine die Schwäche ihres Herzens.

Ich schreibe Ihnen des Nachts; denn ich habe mir vorgenommen sie bey Tage nicht zu verlassen, um die schädlichen Folgen zu verhüten, welche die Einsamkeit bey ihr hervorbringen möchte. Schreiben Sie mir doch ja bald, liebste Julie, grüßen Sie Ihren Mann, und küssen Sie Ihren allerliebsten Jungen von mir. Ich bin stets mit größter Zärtlichkeit

die Ihrige

Sophie.[275]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 273-276.
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