Neunundvierzigster Brief

Sophie an Julien

[279] Unsre arme Marie leidet noch immer sehr. Es ist mir aber doch schon gelungen, sie um vieles ruhiger zu machen; aber, sie ganz zu beruhigen, das werden ihre gar zu hoch gespannten Empfindungen wohl nicht zulassen.

Ich suche sie so viel möglich zu zerstreuen: ich habe sie auch ein paarmal bewogen, mit mir in Gesellschaft zu gehen; aber ich sehe, daß dieser Weg nicht der rechte bey ihr ist. Ernsthafte Betrachtungen über allerley Materien machen noch den größten Eindruck auf sie, und sind in guten Stunden ihre liebsten Unterhaltungen. Sie würden mich sehr verbinden, liebste Julie, wenn Sie mir in Ihren Briefen Stoff zu dergleichen geben wollten. Es würde von großem Nutzen für meine Freundinn seyn, wenn ich sie so oft als möglich zum Nachdenken über solche[279] Gegenstände bewegen könnte. Die lebhaften Erinnerungen an ihren Eduard würden dadurch etwas verbannt werden.

Verzeihen Sie, daß mein Brief diesesmal so kurz ist, und daß ich nicht Zeit habe, Ihnen mehr zu schreiben, als die Versichrung, daß es mich unaussprechlich freut, Sie und Ihren Karlsheim so glücklich zu sehen, als Sie beyde es zu seyn verdienen. Ich bitte Sie recht sehr, liebe Julie, machen Sie mir doch ja kein Verdienst mehr aus einer Handlung, die nichts mehr als meine Pflicht war, und deren Unterlassung mich unter die niedrigste Klasse der Menschen würde gesetzt haben. Leben Sie wohl, meine theure Freundinn, und lieben Sie immer so zärtlich wie jetzt

Ihre

Sophie.[280]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 279-281.
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