Sechster Brief

Marie an Sophien

[43] O meine Sophie, welch eine die Menschheit entehrende Scene habe ich angesehen! Ist es möglich, daß deine Geschöpfe so ausarten können, Vater der Liebe? daß Menschen, die du schufst, um gut und barmherzig gegen einander zu seyn, wie du es gegen uns bist, barbarischer gegen ihre eignen Abkömmlinge verfahren können, als die Raubthiere des Waldes? O diese sind doch noch gütig gegen ihre Kleinen. Sie entziehen sich selbst ihre Nahrung, um sie ihnen zu geben,[43] und bewachen mit treuer Sorgfalt ihre Jungen, bis sie ihrer Hülfe nicht mehr bedürfen! Doch, Sophie, Sie können mich nicht verstehen, wenn ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzähle.

Mein Mann bat mich, einen kleinen Spaziergang mit ihm zu machen. Wir kehrten ganz heiter zurück, und kamen vor einem abgelegnen Hause vorbey, in welchem wir ein schwaches Wimmern hörten. Ich gieng nahe ans Fenster, um die Ursache davon zu entdecken, und hörte eine Mannsstimme sagen:

»Aber, Frau, ein unvernünftiges Vieh würde mehr Mitleid mit seinen Kleinen haben; ich kann das Gewinsel nicht länger anhören.«

»Halt das Maul, du Schaafskopf, schrie eine weibliche Stimme, oder du sollst mit dem Balge zugleich krepiren.«[44]

Wir giengen hinein. Mein Mann fragte mit starker Stimme, was die Ursache des Winselns sey?

»Siehst du, Frau, sagte hier der Mann ganz furchtsam, ich sagte dir wohl, daß die Obrigkeit dazu thun würde.«

Ein paar tüchtige Ohrfeigen hießen den Mann zu seinem Sitze zurücktaumeln, und das Weib antwortete ganz frech: »es hätte sich niemand darum zu bekümmern, was in ihrem Hause vorgienge.« Da mein Mann noch ernstlicher in sie drang, sprang sie auf, lief die Treppe hinauf, und schloß die Thür einer Dachkammer zu. Wir folgten ihr, und mein Mann stieß mit leichter Mühe die schwache Thür auf. Hier lag, o Anblick, vor dem sich die Menschheit empört! hier lag in einem Kasten mit Stroh ein sechsjähriges Kind beynahe nackend. In seinem blassen Gesicht herrschte schon der Tod, und der unerträglichste Gestank[45] von seinem eignen Unflath, worinn es lag, war umher verbreitet. Was bedeutet dieser Anblick? fragte mein Mann, starr von Entsetzen, ein Mädchen, das uns nachgefolgt war. Das Weib hatte sich gleich fortgemacht. Ach Gott! sagte das Mädchen, die Frau hat mit diesem Kinde ein sehr schweres Wochenbette gehabt, und eine Brust dabey verloren, und da that sie, denn sie ist immer ein gottloses Mensch gewesen, den Schwur, der kleine Nickel sollte für alle die Schmerzen büßen, die er ihr verursacht hätte. Sie hielt auch das arme Kind so hart, daß es einem recht jammerte, ließ es halbe Tage hungern, und prügelte es aufs unbarmherzigste, wenn es vor Hunger schrie. Eine Pathe des Kindes nahm es endlich aus Erbarmen zu sich, aber das teuflische Weib konnte es nicht ansehen, daß es ihm so wohl gieng; sie lockte es mit List wieder ins Haus, und da die Pathe starb, hatte sie freye Macht,[46] mit ihm zu schalten, wie sie wollte. Sie quälte nun das arme Kind auf alle ersinnliche Art, bis es endlich krank wurde; da es ihr aber doch mit der Krankheit zu lange währte, ob sie es gleich ganz hülflos liegen ließ, so sperrte sie es hier ein, und will es verhungern lassen, denn ein altes Weib, das man für eine Hexe hält, hat ihr prophezeiht: sie würde nicht eher gesund werden, als bis das Kind stürbe. Es ist nun schon der dritte Tag, daß es hier liegt. Es ist immer ganz stille gewesen; denn wenn es anfieng zu weinen, prügelte es die gottlose Mutter, und drohte ihm, sie wolle es todtschlagen, wenn es noch einen Laut von sich gäbe. Ich habe so viel drüber geweint, und habe schon zweymal nach der Stadt laufen wollen, um Hülfe für das Kind zu holen, aber sie hat mich immer wiedergekriegt, und mich so lange geschlagen, bis ich versprach, niemand wieder etwas zu entdecken.[47] Ich habe aber doch Mittel gefunden, dem Kinde einigemal ein Bißchen Brod zuzustecken. Der Vater ist auch ein Bösewicht; allein es jammert ihn doch jetzt auch, er darf aber nichts sagen. – –

Mein Mann schickte eilig das gute Mädchen hin, um die Wache und eine Sänfte zu holen, begleitete es bis an die Hausthür, und schloß ab. Ich nahm das elende Kind aus dem Kasten, aber fast wäre ich vor Gestank ohnmächtig geworden. Ich überwand aber meinen Ekel, reinigte es von dem Unflath, worinn es lag, und bedeckte es mit meinen Kleidern; es sah mich mit einem so rührenden Blick an, der mir ins Herz drang, sagte aber nichts. Unterdessen kam die Wache an. Das Weib hatte sich gleich Anfangs im Keller versteckt, man holte sie aber mit Gewalt heraus. Sie tobte, wüthete, fluchte aufs gräßlichste, und spie dem einen Kerl ins Gesicht. Aber, alles[48] Sträubens ohngeachtet, wurde sie sammt ihrem Mann mit fortgeschleppt. Ich setzte mich in die Sänfte und nahm das Kind auf meinen Schooß, aber nun bat mich Christiane, das Mädchen, welches vorhin erzählte, mit Thränen, sie doch auch mitzunehmen. Ich thats, und will sie so lange behalten, bis ich ihr eine gute Herrschaft ausgemacht habe. Wie ich zu Hause kam, legte ich gleich das arme kleine Lieschen ins Bette, und gab ihm etwas Stärkendes. Unterdessen kam der Arzt. Nachdem er seinen Zustand untersucht hatte, fand er, daß. es die Auszehrung habe. Da sie aber noch im Anfang sey, und es eine starke Natur zu haben schiene, so hoffe er es mit Gottes Hülfe noch zu retten. Wird es wieder besser, so werde ich die sonderbare Art, durch die ich es fand, für einen Wink des Himmels ansehen, und auf alle mögliche Art für seine gute Erziehung sorgen. Dieser Auftritt[49] hat mich so erschüttert, daß ich heute nicht im Stande bin, Ihren Brief, meine Theure, zu beantworten. Ich muß auch wieder zu dem armen Lieschen gehen. Ewig bleibe ich die Ihrige

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 43-50.
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