Siebenter Brief

Sophie an Marien

[50] Ihr Brief hat mich sehr gerührt, theuerste Freundinn. Denn ob ich gleich oft ein unbesonnenes, lebhaftes Ding bin, so ist doch mein Herz auch fähig, von den Gefühlen des Mitleids bey dem Leiden andrer Menschen sehr lebhaft durchdrungen zu werden. Der Segen des Himmels muß bey Ihnen wohnen, meine Marie, daß Sie zu einem so schönen Werkzeug der Rettung eines unschuldigen Kindes ausersehen wurden.[50]

O! meine Freundinn, mein Herz wird von einem schweren Kummer niedergedrückt. Schon sechs Tage sind vergangen, ohne daß ich Karlsheim sah! Er scheint unser Haus, er scheint meine Gesellschaft zu meiden, und sonst suchte er so eifrig alle Gelegenheit auf, mich zu sehen. Und o, wie schien er so ganz von den zärtlichsten Gefühlen durchdrungen, wenn er bey mir war! Wie entzückte ihn mein Blick! wie zitterte seine Hand, wenn sie die meinige berührte! und jetzt vermeidet er mich. O Gott! und doch fühle ichs, daß ich ihn noch unaussprechlich liebe, daß ich nur in ihm lebe. O, ich glaubte zu fühlen, daß die Freuden des Lebens, von denen ich bisher nur die Oberfläche berührte, in seiner Liebe mir aufblüheten. Unseliger Irrthum! Was mag ihn wohl zu dieser sonderbaren Aufführung bewegen? Ich beleidigte ihn ja nie mit einem Gedanken; aber was sollen diese Klagen? Ich will mich bemühen,[51] den Undankbaren zu vergessen. Leben Sie wohl, Marie, und bedauern Sie mich.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 1, Leipzig 1784, S. 50-52.
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