Hundertunderster Brief

Sophie an Julien

[260] Unsre Marie wird nun bald ein vollendeter Engel Gottes seyn. Sie ist ihrer Auflösung nahe, und fühlt mit der größten Heiterkeit ihren Tod heranrücken. Mit gefalteten Händen segnet sie[260] die Stunde, die ihre Seele zu Gott bringen wird. Seit einigen Tagen hatte sie oft Zweifel gehabt, ob Gott ihr auch die Schwäche ihres Herzens verzeihen könnte, ob sie nicht äußerst strafbar sey, an einem andern Gegenstande so fest gehangen zu haben? Auch glaubte sie, ihr Leben wäre nicht thätig und nützlich genug für ihre Nebenmenschen gewesen.

»Ach Sophie! sprach sie, wie manche Stunde habe ich über das Elend eines andern bloß geweint, statt daß ich ihm wirklich beyzustehen hätte suchen sollen! Wie viele Zeit, die ich hätte nützlicher anwenden können, habe ich bloß damit zugebracht, meinem Gefühl nachzuhängen! Ich bin zwar wohlthätig gegen Arme gewesen, aber ich gab ihnen gewöhnlich nur von meinem Ueberfluß. Die wahre Wohlthätigkeit ist, wenn man sich selbst Vergnügungen, und auch Bedürfnisse entzieht, um den Armen[261] beyzustehen; und ach wie selten that ich das! Was ist wohl verdienstliches bey einem Almosen, welches wir bloß von dem Gelde geben, das uns ganz entbehrlich ist! Das ist nicht die Barmherzigkeit und Menschenliebe, die der Heiland uns vorschreibt, und die er selbst an uns bewies.«

Ihre Rührung verstattete ihr nicht, weiter zu reden. Der einsichtsvolle Geistliche beruhigte ihr Herz, und ließ sie in eben der barmherzigen Güte Gottes, von welcher sie jetzt redete, ihren Trost finden, Und nun empfieng sie in Gemeinschaft mit uns das heilige Abendmahl. O wie war ihre Seele von seligen Gefühlen der Andacht und Dankbarkeit gegen Gott durchdrungen! Wie schien sie schon so selig auf Erden zu seyn, und den Vorschmack des Himmels zu fühlen! O möchten doch diese Erinnerungen nie aus meiner Seele weichen, und auch mir dereinst Beruhigung in der Todesstunde seyn! O Gott! stärke[262] du meine Bemühungen, mir einen Schatz von guten Handlungen zu sammeln. Das ist ja der einzige Reichthum, den wir mit in jene Welt nehmen!

Marie beschäftigt sich mit Schreiben; ich glaube, sie schreibt an Albrecht; denn sie hat seit einigen Tagen davon gesprochen, daß sie ihn noch einmal zu sehen und sich mit ihm zu versöhnen wünschte. Jetzt ist sie fertig und giebt mir den Brief. Es soll sogleich ein Bote damit nach der Stadt gehen, damit sie ihn, wo möglich, noch sieht. Sie ist äußerst matt.

Welch eine rührende Scene! Eben ließ sie noch ein mal alles Gesinde aus dem Hause, und die Kinder, an deren Unterricht sie bisher geholfen hatte, herauf kommen. Sie nahm Abschied von ihnen, hielt eine kleine Rede an sie, und ermahnte sie darinnen, stets so gut und rechtschaffen zu handeln, daß sie ruhig mit jeder Stunde ihrem Tode entgegen sehen könnten. Sie schluchzten[263] alle vor Wehmuth, und nun bat sie uns insgesammt, ein schönes Lied von Gellert zu singen. Die vereinigte Andacht so vieler Menschen war ein angenehmes Opfer für den Herrn. Sie selbst sprach nun auch noch ein kurzes Gebet, und gab jedem noch einmal die Hand zum Abschiede. Gewiß war kein einziger unter allen, dessen Herz nicht von den stärksten Vorsätzen zur Frömmigkeit durchdrungen gewesen wäre. Sie konnten vor Bewegung kein Wort sprechen; sie selbst mußte sich von diesem Auftritt erholen, und wird jetzt durch einen sanften Schlummer erquickt. Jetzt rührt sie sich. Sollte sie schon wieder erwachen? Ich will zu ihrem Bette eilen, damit keine Minute ihres Lebens mir verloren geht.

Sophie.[264]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 260-265.
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