Hundertundzweyter Brief

Marie an Albrecht

[265] Ich fühle, daß der Augenblick meines Todes herannaht, daß ich nur noch wenige Stunden zu leben habe. Diese letzten Stunden sollen dazu gewidmet seyn, Dich mit mir auszusöhnen. Ich gestehe, daß ich Dir die erste Veranlassung gab, Dich von mir zu trennen. Ich war zu schwach, um dem Andenken an einen Mann zu widerstehen, den ich einst mit vieler Zärtlichkeit liebte, von dem erdichtete Erzählungen seiner Untreue mich trennten, und dessen Unschuld ich nun erfuhr. Dieses war die Ursache meines Kummers. Ich kämpfte zwischen Leidenschaft und Pflicht, und mein Herz und meine Kräfte wurden durch diesen Kampf zerrissen. Aber nie kam ein sträflicher Gedanke in meine Seele, und nie verletzte ich durch irgend eine niedrige Handlung die Treue[265] gegen Dich. Sophie kann Dir die Beweise davon geben.

Und nun, Albrecht, vergieb mir die Schwäche meines Herzens, das nicht vermochte, sich ganz unter die Herrschaft meiner Vernunft zu beugen. Gott hat mir vergeben; mit sanfter Beruhigung erfüllt dieser Gedanke mein Herz! Verzeihe auch Du mir eben so herzlich, wie ich Dir verzeihe, daß Du ohne hinlängliche Ursache mich verstießest. Du bist völlig bey mir entschuldigt; ich weiß, daß Du gut und edel denkst, und daß man Dich mit Trug und List hintergieng. Aber ich hege auch keinen Groll gegen den Störer unsrer Ruhe; ich vergebe ihm von Herzen, und bitte Dich, meinen Tod nicht an ihm zu rächen, und dem nicht vorzugreifen, der oben im Himmel unsre Schicksale regiert!

Es würde sehr zu meiner Beruhigung dienen, wenn ich Dich noch einmal sehen könnte, um[266] mich vor dem Angesicht meines Gottes mit Dir zu versöhnen, und die Ueberzeugung mit in jene Welt zu nehmen, daß in unsern Herzen kein Unwille gegen einander mehr wohnt. Versage mir diese Bitte nicht. Es ist die letzte, die ich an Dich thue; und wenn dieser Wunsch befriedigt ist, so werde ich mit Ruhe in jene Gefilde übergehen, deren Aussicht mein Herz aufs sanfteste erheitert. Ich will Gott bitten, daß er auch dem Deinigen eine solche Ruhe schenken wolle, damit wir in jener Welt uns wiederfinden.

Marie.[267]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 265-268.
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