Hundertunddritter Brief

Sophie an Julien

[268] O Julie! ihr himmlischer Geist ist entflohen, er ist jetzt gewiß schon bey Gott, und sieht unsre Thränen fließen. Ach warum weine ich? Sie ist ja in dem seligen Genuß der Freuden einer Ewigkeit, für die sie geschaffen ward. Hätten wir andern doch auch überwunden! Ich will mich zu fassen suchen, um Ihnen die Geschichte ihrer letzten Augenblicke zu geben.

Während ihres Schlummers lächelte sie, und streckte die Arme aus, als wollte sie einen Gegenstand umfassen, den ihre Phantasie sah. Sie erwachte:

»Bist du verschwunden, selige Gestalt, und hast mich nicht mit dir genommen? Aber warte, ich komme!«

Sie phantasierte und wollte aus dem Bette. Ich umarmte sie:[268]

»Liebste Marie, besinnen Sie sich. Sie sind noch bey uns, in den Armen Ihrer Freundinn.«

Bist du's Sophie? – sagte sie mich starr ansehend; aber in eben dem Augenblicke kehrte auch ihr Bewußtseyn wieder. Sie sagte, daß sie im Traum ihrer Mutter Gestalt, von himmlischem Glanz umgeben, gesehen habe. Sie habe ihr gewinkt, und sey darauf unter einer Menge seliger Geister, die neben ihr gestanden, verschwunden.

Sie sprach nun noch mit Entzücken von Gott, und dem sie erwartenden Himmel, trug mir auf, für Eduards Beruhigung zu sorgen, und ihm einen Brief zu geben, welchen sie zu seiner Beruhigung schrieb. Auch bat sie mich, die Erziehung ihres kleinen Lieschens zu übernehmen, legte nun, matt vom Reden, ihr Haupt aufs Kissen, und bat mich, die Bachische Composition[269] einiger herrlichen Gellertschen Lieder zu spielen, und dazu zu singen. Dieses war seit ihrer Krankheit ihre liebste Erquickung gewesen. Darauf mußte unsre Pastorinn ihr aus der Bibel vorlesen. Sie hörte mit andächtiger Aufmerksamkeit zu, und winkte ihr zuweilen, inne zu halten, um über das Gelesene nachzudenken. Während einer solchen Pause stürzte Albrecht ins Zimmer, und fiel vor ihrem Bette nieder.

»Marie! himmlische Seele, voll Güte und Sanftmuth, kannst du mir, deinem Mörder! vergeben?«

»O Albrecht! nicht du, die gar zu große Empfindlichkeit meines Herzens hat meinen schwachen Körper zu Grunde gerichtet. Aber ich danke Gott, daß er mich so bald zu sich nehmen will, und –«

Sie bestrebte sich noch mehr zu sagen, aber die Sprache verließ sie. Sie drückte schweigend[270] seine Hand, und lächelte mit einem himmlischen Blick ihn an. Sie bemühte sich noch einigemal vergebens, zu reden; endlich brachte sie mühsam die gebrochnen Worte hervor:

»Vergieb Wildbergen und räche nicht –« Mehr konnte sie nicht sagen, die erhabne großmüthige Seele, die noch in ihren letzten Augenblicken die edelste Tugend des Menschen, die Liebe der Feinde, übte!

Sie richtete nun schwach sich auf, reichte mit beyden Händen in die Höhe, ihr Gesicht wurde erhellet, und sie sank leblos zurück. Albrecht lag noch auf seinen Knien, und blickte noch mit stummer Verzweiflung starr sie an. Endlich sprang er auf, gieng zum Schreibtisch und schrieb:


An Wildberg

Fühlest Du es, Verräther! daß sich ihr Geist jetzt von dannen schwang? Sankest Du nicht[271] bebend zur Erde nieder? Die Heilige fluchte Dir nicht, sie verbot auch mir, Rache an Dir zu nehmen. Das war das letzte, was ihr sterbender Mund sprach. Ich muß ihr gehorchen; aber ich beschwöre Dich, vermeide meinen Anblick. Wenn ich Dich sähe, so würden alle ihre Bitten vernichtet werden; ich würde ihren Tod an dem Schändlichen rächen, und ihr seliger Geist würde durch meinen Ungehorsam beleidigt werden. O ich Elender! der ich mich durch einen Teufel verleiten ließ, einen Engel zu verstoßen! Marie, Marie! Du empfahlst mir Sanftmuth, Beruhigung! Aber ach! ich bin ihrer nicht fähig. Unruhe und Gewissensvorwürfe werden meine Begleiter seyn! Wäre doch mein elendes Leben geendigt!


Fortsetzung. Sophie an Julien.

[272] Diesen Brief schickte er an den verrätherischen Wildberg, und nun bat er mich, ihm die Briefe des Engels zu zeigen, welche die schreckliche Geschichte enthüllten. Ich gab ihm die ihrigen, und die Abschriften von den meinigen an Dich, erzählte ihm auch die letzten schönen Tage der Seligen. Anfangs hörte er mit stummer Verzweiflung zu, aber am Ende erweichte ich ihn, und seine Thränen flossen. Er erzählte mir die teuflischen Ränke Wildbergs und noch eines verworfnen Geschöpfs, Namens Amalie. Diese liebte er, ehe er Marien kannte, entzweyte sich wegen eines Liebeshandels mit ihr, und heyrathete Marien. Wildberg wußte nun die letzte Schwäche Mariens ihm so schwarz vorzumalen, und seine schlafende Liebe für Amalien, die er ihm treu und tugendhaft schilderte,[273] so künstlich wieder aufzuwecken, daß er ihn zur Scheidung beredete.

Und nun das Schrecklichste noch! – Wie gut, daß Marie nichts davon wußte! – Albrecht heyrathete die Buhlerinn, fand sie bey einem Liebhaber, sperrte sie ein, und findet den andern Morgen ihr Zimmer leer. Sein Johann giebt ihm einen Brief von ihr an Wildberg, welcher ihm von Amaliens Mädchen zur Bestellung gegeben war. Albrecht sieht daraus die schändliche Verrätherey, die man an ihm begieng. Er geräth ganz von Sinnen, stellt seine Marie in ihrer leidenden Gestalt sich vor, will zu ihr, aber Furcht und Schaam halten ihn zurück. Und nun bekömmt er ihren Brief. Voll Verzweiflung wirft er sich aufs Pferd und eilt zu ihr. Bey ihrem Anblicke glaubt er zu vergehen. Auch noch ist sein Zustand so trostlos, daß er mir, seines Vergehens ohngeachtet, Mitleid einflößt.[274]

Ach Gott! auch ich werde den Verlust meiner Marie noch immer tief fühlen. Nie werde ich ihre sanfte himmlische Seele, nie die rührenden Auftritte ihres Todes vergessen! Mein Herz ist gewiß auf immer der rauschenden Freude verschlossen. – Ich muß ihren Brief an Eduard schicken, und Nachricht von seinem Zustande erfahren. –

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 268-275.
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