Hundertundvierter Brief

Marie an Eduard

[275] Mein Geist wird nun bald diese gebrechliche Hütte verlassen, und sich in jene Gefilde der Ruhe und des Friedens hinaufschwingen! Ich werde Dich nicht mehr sehen, Eduard! Eine Zusammenkunft unter uns würde uns beyden nachtheilig seyn. Sie würde die ruhige Fassung stören, mit der ich jetzt meiner Auflösung entgegen[275] sehe. Mein Tod würde erschwert, und meine Seele, die sich schon halb bey Gott fühlt, würde wieder zur Erde gezogen werden. Du erhältst also dieses Papier, wenn ich nicht mehr bin. O möchte es Dich beruhigen, und mit der seligen Gewißheit erfüllen, daß Du bald bey mir seyn wirst! Ich werde noch in meinen letzten Augenblicken Gott bitten, daß er diese selige Fassung Dir schenke, und ich hoffe, er wird mein Gebet erhören.

Traure nicht um mich, Eduard. Ich fühle, daß ich glücklich seyn werde. Ich gehe ja nur voran, um Dir den Weg zu bahnen; in der Gesellschaft seliger Geister will ich Deiner harren, und den Augenblick erwarten, in welchem auch Deine Seele vor Gott kommen wird. Ist es mir erlaubt, so werde ich oft Dich umschweben, und himmlischen Trost Dir einhauchen. Hörst Du dann ein sanftes Säuseln: so denke, daß es der Geist Deiner Marie ist, die noch jenseits[276] mit den geläuterten Empfindungen reiner Geister Dich liebt. Aber, theurer Eduard, verkürze auch nicht selbst Dein Leben durch unmäßigen Gram. Erhalte es sorgfältig, so lange Dein Schöpfer befiehlt, der es Dir gab! Harre geduldig, bis der Todesengel kömmt, der Dich von dieser Welt abruft; und dann schwinge Deine entfesselte Seele, über Tod und Leiden erhaben, sich zu Gott empor!

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 275-277.
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