Hundertundfünfter Brief

Sophie an Julien

[277] Gott! welch ein Auftritt war das! Man hatte Marien in den Sarg gelegt, und wollte nun den Deckel befestigen, um sie auf ewig unserm Anblick zu entziehen. Eduard, der noch einmal ihre Leiche zu sehen gekommen war, lag[277] sinnlos auf der Erde neben dem Sarg. Albrecht war in ein andres Zimmer gebracht, und ich stand bey dem erblichnen Leichnam der Seligen, um den letzten Kuß auf ihre blassen Lippen zu drücken. Ihr Mund schien noch sanft zu lächeln, und ihre Gesichtszüge – nicht verzerrt, wie sie sonst bey Todten zu seyn pflegen – hatten noch das sanfte Gepräge der himmlischen Fassung, mit der sie verschied. Ich glaubte, meine Seele auf ihren Lippen auszuhauchen, und hieng in tiefer Schwermuth über ihr, als mit fürchterlichen Blicken Wildberg herein trat. Er eilte auf den Sarg zu, stieß ein schreckliches Geschrey aus, und prallte zurück:

»Du bist gerächt, Marie! Hier in diesem verfluchten Herzen wohnt die Hölle mit allen ihren Quaalen. Eine Legion böser Geister ist in mich gefahren. O weh mir! – sie zerreißen mich! Halt! – da kommen sie! Schreckliche Gestalt, mit Blut befleckt, wer bist du? O![278] schiele nicht so fürchterlich her. Zucke deinen Dolch nicht so schrecklich. Weh mir! Wer rettet mich? – Marie! Marie! Kannst du so grausam seyn? Ach! du fluchtest mir ja nicht. – Aber du, Weibsgestalt, was spottest du über mich? Wer bist du? Halt! ich kenne dich. Du sollst mit ihr hinab!«

Er sprang auf mich los. Man entriß mich ihm, und band ihn fest. Ein eben gegenwärtiger Arzt sagt, seine Tollheit sey unheilbar. Er wird in ein Haus gebracht werden, wo mehr solcher Unglücklichen sind. O Julie! ich selbst bin äußerst matt. Die Feder fällt mir aus der Hand. O wären wir alle doch erst da, wo die Selige jetzt ist!

Fußnoten

1 Der Brief selbst sowohl als die Abschrift sind verloren gegangen.


Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784.
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