Vierundsechzigster Brief

Sophie an Julien

[81] O Julie, was leidet mein Herz bey dem Kummer meiner Marie! Der herrliche Umgang unsrer vortrefflichen Wirthinn hat zwar ihren Schmerz sanfter gemacht und gemildert, aber ihre Seele leidet doch noch immer sehr tief. Es ist ein rührender Anblick, zu sehen, wie sie in den Stunden die kleinen Kinder unterrichtet, wie ihre schwache Stimme oft ausruhen muß, um weiter reden zu können.

Die Frau Pastorinn erlaubt ihr dieses Geschäft gern, ob es gleich ihre schwachen Kräfte angreift; denn sie glaubt, daß solche Beschäftigungen das[81] kräftigste Gegengift ihres Kummers sind. Mariens sanftes Herz macht auch, daß sie die Kinder liebt, und ohngeachtet ihres innern Leidens beträgt sie sich doch so gefällig und liebreich gegen diese Kleinen, daß sie ihr sehr anhängen. Oft, wenn sie ein solches Kind auf ihrem Schooße hält und seine Wangen streichelt, überfällt sie ein so heftiger Schmerz, daß sie das Zimmer verlassen muß, um sich in der Einsamkeit zu erholen. Die liebenswürdige Pastorinn sucht sie auf alle mögliche Art zu beruhigen, und Marie erkennt dieses sehr dankbar.

– »Ich schätze, sagte sie gestern zu mir, mit äußerster Verehrung diese treffliche Matrone. Aber ach, sie kann sich wohl nicht ganz in meine Lage denken. Ihr Herz, von geheiligtern Empfindungen durchdrungen, fühlte gewiß nie die Schmerzen der Liebe.«[82]

Die Pastorinn selbst kam ins Zimmer, als Marie dieses sagte, und diese letzte verbarg ihr diesen Zweifel nicht.

»Sie irren, liebe Freundinn. Ich habe in Ihren Jahren auch viel gelitten, glaubte auch oft, ich würde nie wieder heiter werden, und doch genieße ich jetzt ein glückliches Alter. Ich will Ihnen meine Jugendgeschichte erzählen; vielleicht finden Sie etwas Beruhigendes darinn.«

– Auch Ihnen, liebe Julie wird sie interessant seyn; Sie lernten auch früh die Leiden kennen. –

»Ich bin von vortrefflichen Eltern geboren, die mein junges Herz schon früh zur Liebe Gottes, und zum Wohlthun gegen meine Nebenmenschen gewöhnten. Oft zeigte mir mein Vater auf Spaziergängen die Schönheiten der Natur, und machte mich auf ihren Schöpfer aufmerksam. Mit Weisheit und Güte beantwortete er meine kindischen Fragen von Gott, und[83] pflanzte schon früh Liebe und Ehrfurcht gegen den Allmächtigen in meine zarte Seele.

Meine Mutter gewöhnte mich auch zum Wohlthun. Sie lehrte mich früh den Gedanken fassen, daß wir nur Verwalter unsers Vermögens wären, und daß Gott den Reichen darum mehr Geld gegeben hätte, damit sie mehr Macht haben sollten, Gutes zu thun, und ihren armen Brüdern beyzustehen. – Ich entzog mir oft ein neues Kleid oder so etwas, und gab das Geld einer Mutter, um ihr nacktes Kind vor Kälte und Hunger zu schützen. Meine Mutter lehrte mich den Dank und die Freudenthränen der Armen mehr schätzen, als alle die Eitelkeiten, mit welchen man sonst den Kopf der kleinen Mädchen anfüllt.

Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey, und diesen lenkten meine Eltern bloß auf das Gute und Tugendhafte; denn sie glaubten mit Recht, daß Gefühle und Begriffe von Tugend,[84] wenn sie auch übertrieben wären, bald genug mit zunehmenden Jahren in der Welt herabgestimmt würden, und daß es also weit besser sey, zu viel als zu wenig Empfindungen für sie zu haben. Im zehnten Jahre verlor ich meine Mutter. Wie wurde ihr auf ihrem Todbette der Gedanke so schwer, mich in dem gefährlichsten Alter allein hier zurückzulassen! Mit welchen innigen heißen Gebeten empfahl sie mich der Fürsorge Gottes! Der gütige Vater erhörte auch ihr frommes Gebet. Er schickte zwar Prüfungen, aber nur um mich zu läutern!

Nach ihrem Tode – stets werde ich wünschen, so selig, mit solcher Ergebung in den Willen Gottes zu sterben, wie sie starb – mußte mein Vater seine Schwester zu sich nehmen, damit sie die Haushaltung versähe, und die Aufsicht über mich führte, zu der ihm seine überhäuften Geschäfte, die ihn auch oft auf ganze Wochen entfernten, keine Zeit mehr übrig ließen.[85] Diese Tante war eine gute Person, die sich aber durch beständiges Lesen der Ritterbücher und Romane den Kopf mit lauter überspannten Grillen angefüllt hatte. Sie hielt auch mich zu dieser Lektüre an. Mein Verstand war schon zu gut gebildet, als daß ich an den abgeschmacktesten derselben hätte Vergnügen finden können; aber desto mehr rissen mich diejenigen hin, deren Helden die Maske der Tugend und des Edelmuths hatten. Ich fand immer mehr Geschmack daran. Meine Einbildungskraft nahm warmen Antheil an den Schicksalen der so tugendhaft scheinenden Heldinnen. Sie schienen mir erhabne Muster zu seyn, nach welchen ich mich bildete; sie erweckten in mir den Wunsch zu ähnlichen Begebenheiten, und mein junges Herz sehnte sich bald nach einem Gegenstande, dem es seine Liebe widmen könnte.

Der Fleiß in häußlichen Geschäften, die Wohlthätigkeit gegen Arme, die warme Liebe[86] zu Gott, erkaltete nach und nach. Es schien mir zwar, daß ich alles weit lebhafter fühlte als sonst; aber ungeachtet ich von der Erzählung der Leiden eines andern bis zu Thränen gerührt werden konnte, so war ich doch im Grunde weit weniger thätig, ihm beyzustehen, als sonst, es sey denn, daß er mir eben in dem Augenblick der Rührung erschienen wäre. Denn ob gleich meine Gefühle des Mitleids sehr lebhaft schienen, so waren sie doch nicht anhaltend genug, um mich zu vermögen, die Gelegenheit zu thätigem Beystande aufzusuchen.

Geschäfte riefen meine Tante in die Stadt, und ich reiste mit ihr. Wir wurden zu einem Ball eingeladen; ich hatte heftige Begierde dahin, denn ich war noch nie auf einer öffentlichen Lustbarkeit gewesen. Meine Tante erfüllte meine Bitten, und gieng mit mir hin. Unter den vielen jungen Leuten fiel mir besonders einer auf, der eine schöne Gestalt und bescheidne[87] Miene hatte. Er nahte sich mir, und foderte mich zu einem Tanz auf. Sein sittsames Betragen reizte mich sehr, weil es so merklich gegen die Unverschämtheit der andern abstach. Er begleitete uns nach Hause und nahm so wohl mich als meine Tante durch seinen Verstand und sein angenehmes Wesen ein. Er suchte seit der Zeit alle Gelegenheit auf, mich zu sehen, und betrug sich dabey so, daß meine Tante bald seine Neigung gegen mich merkte. Er war von Adel, und die Verbindung mit ihm, die sie für gewiß hielt, schmeichelte ihrem romanhaft gebildeten Geiste sehr.

Auch mir schienen seine Gefühle den meinigen so ähnlich, daß ich bald in ihm den Gegenstand zu finden glaubte, nach welchem ich mich schon so lange gesehnt hatte. Ich glaubte in ihm das höchste Ideal der Vollkommenheit, die meine Romane mir geschildert hatten, realisirt zu sehen. Einige Monate verflossen uns in[88] unaussprechlicher Zärtlichkeit. Aber nun, denken Sie sich meinen Schmerz! erfuhr ich, daß mein angebeteter Liebhaber – ein nichtswürdiger Betrüger war. Er war schon lange verheyrathet, aber ein eben so treuloser Gatte gegen seine entfernte Gattinn, als er sonst ein flatterhafter Liebhaber gegen jedes Mädchen gewesen war. Meine Jugend und Unschuld hatte ihn gereizt. Er machte den Plan, durch die Larve sittsamer Zärtlichkeit mich zu hintergehen, um die letzte zu Grunde zu richten, und mich dann zu seiner Buhlerinn zu machen, wenn er den Stolz meiner jungfräulichen Tugend zernichtet hätte. Er hatte mich gleich bey meiner Ankunft gesehen, und den Ball veranstaltet, um mit mir Bekanntschaft zu machen.

Schrecken und Abscheu machten mich erstarrend. Statt daß ich auf meinen Knien Gott hätte danken sollen, daß er mich so zu rechter Zeit aus den Händen des Bösewichts rettete,[89] überließ ich mich einem unbändigen Kummer, verfiel endlich in eine melancholische Schwärmerey, und durch dieselbe in eine gefährliche Krankheit.

Mein Vater ließ mich nach Hause holen. Er und der vortreffliche junge Prediger des benachbarten Dorfs wandten alles zu meiner Beruhigung an. Der letzte brachte die romantischen Hirngespinnste aus meinem Kopf, und lehrte mich meine Empfindungen auf der rechten Seite anwenden. Ich genas, und mit meinem Körper wurde auch meine Seele gesund. Ich bemühte mich, meinem Nächsten so nützlich zu werden, als ich mich ehemals zu seyn bestrebt hatte. Und nun glaubte der würdige Geistliche mit Sicherheit hoffen zu können, daß er in mir eine Frau finden würde, die ihm, seinen Wünschen gemäß, in der Ausführung seines Plans beystände, die Einwohner seines Dorfs zu guten und glücklichen Menschen zu[90] machen. Er lehrte mich die vernünftige Liebe kennen, und ich lebe nun seit dreyßig Jahren in der glücklichsten Ehe. Zwar hatte ich den Schmerz, mein einziges Kind an den Pocken sterben zu sehen, aber die feste Ueberzeugung beruhigte mich, daß Gottes weise Vorsehung auch über die kleinsten Theile der Schöpfung waltet, daß er es mir entriß, damit ich es einst als einen Engel Gottes wiederfände! Seit diesem Zufall hat nichts mehr meine Ruhe stören können, und ich bemühe mich, jeden Abend mit der Beruhigung schlafen zu gehen, daß ich den Tag über mich bestrebet habe, meinen Nebenmenschen so gut und nützlich gewesen zu seyn, als möglich.«

Marie seufzte am Ende dieser Erzählung. Die Pastorinn umarmte sie, und sagte ihr noch viel Schönes zu ihrer Beruhigung. Sie glaubte auch, es wäre Mariens Pflicht, an ihren Mann zu schreiben, und ihm den Argwohn zu benehmen,[91] den er gegen sie gefaßt hätte. Marie selbst glaubte die Verbindlichkeit dazu zu fühlen, und schrieb noch denselben Morgen an ihn. Hier haben Sie die Abschrift des rührenden Briefs.1 Ich muß schließen. Schreiben Sie mir doch bald, liebe Julie.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 81-92.
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