Fünfundsechzigster Brief

Julie an Sophien

[92] Ich nehme so vielen Antheil an dem Leiden Ihrer Freundinn, daß ich selbst seit einiger Zeit ganz schwermüthig geworden bin. Mein kleiner Gustav zerstreut indessen gewöhnlich meinen Tiefsinn durch seine kindischen Tändeleyen. Der gute Knabe kennt noch keinen andern Kummer, als den, wenn seine Speise einmal zu lange ausbleibt![92] Wie glücklich sind diese kleinen Geschöpfe, deren Bedürfnisse noch so leicht zu befriedigen sind! Ach Sophie, daß doch dieses goldne Zeitalter, diese Jahre der schuldlosen Freude, nicht wiederkehren! Ach daß mit den zunehmenden Kenntnissen auch so viele neue Wünsche in uns aufwachen, die wir oft nicht erfüllen können, und die dann nur zu eben so vielen Quellen des bittern Jammers für uns werden!

Diese Betrachtungen rühren mein Herz, und erfüllen es mit lebhaftem Danke gegen Gott, der so bald meinen Kummer endigte, und meine Wünsche über meine Erwartung erfüllte! Ich lebe jetzt so glücklich, als es nur möglich ist. Das schwärmerische Heftige der Liebe ist nun bey uns gemildert, und wir lieben uns mit der zärtlichsten Freundschaft, die nur unter Eheleuten möglich ist. Wenn sich mein Mann von Geschäften ermüdet fühlt, so glaubt er eine angenehme Erholung[93] im Umgang mit mir und meinem Kinde zu finden. Die Erziehung dieses lieben Knaben giebt uns Stoff genug zu angenehmen Unterhaltungen, und ich freue mich nicht wenig, wenn er meinen Meynungen in diesem Punkte beypflichtet. Zuweilen kömmt auch wohl des Abends ein Freund zu uns, auch wohl meine liebe Charlotte mit ihren Kindern. Ich finde stets viel Nutzen und Vergnügen in ihrem Umgang, denn sie ist eine liebe Frau, von großem Verstande und mancherley Kenntnissen, und dabey ganz ohne den falschen Stolz, der oft an Frauenzimmern die schönsten Vorzüge des Geistes verdunkelt. Sie ist sehr bescheiden, und kann in Gesellschaften gewöhnlicher Weiber eben so gut von Alltagssachen schwatzen wie diese, ohne nur durch ein Wörtchen die Ueberlegenheit ihres Geistes zu verrathen. Auch in Gesellschaft von Mannspersonen mischt sie sich nicht in ihre gelehrten Gespräche, und dringt ihnen nie Urtheile über Bücher[94] oder andre Sachen auf, die in das Fach der Wissenschaften gehören.

»Den meisten Männern – sagt sie oft – ist die so genannte Gelehrsamkeit an uns verhaßt, weil sie glauben, daß unser Verstand nicht dazu bestimmt ist, um über schwere tiefsinnige Materien nachzudenken, und eine Halbgelehrte, voll Stolz und Einbildung auf ihr Bißchen Wissen, ist ihnen mit Recht ein unausstehliches Geschöpf. Die ernsthafte Miene des Philosophen paßt nicht zu der angenehmen Grazie, die sie so gern immer bey uns finden möchten. Sie suchen in einer Gattinn keine starke Denkerinn, sondern ein holdes Geschöpf, das ihnen die lästigen Sorgen der Haushaltung abnimmt, und durch gefälligen Scherz ihren Geist aufheitert, wenn er vom Nachdenken ermüdet ist.«

»Aber eben dazu, meine Liebe, dünkt es mich doch gut, wenn die Frau ihren Geist etwas[95] angebaut hat, damit sie ihren Mann doch auch von andern Dingen als von Putz und dergleichen unterhalten kann.«

»Ich bin vollkommen Ihrer Meynung, liebe Julie. Wenn ein Frauenzimmer Zeit und Anlage hat, so wird es für sie in vielem Betracht gut seyn, ihren Geist mit Kenntnissen zu bereichern. Nur wünschte ich nicht, daß sie Dinge wählte, die bloß für Männer sind, und weiter gar keinen Nutzen für sie haben. Naturgeschichte, das Interessanteste der Historie, Musik, Malerey, Lektüre von solchen Büchern, die den Geist und das Nachdenken schärfen, und unsern moralischen Charakter bilden; sehen Sie, das sind meiner Meynung nach Dinge, die auch für unser Geschlecht von großem Nutzen sind, und ihm Gelegenheit geben, die Zeit, die ihm von weiblichen Geschäften übrig bleibt, angenehm und nützlich anzuwenden. Nur muß ein Frauenzimmer diese Dinge nicht gegen jedermann[96] auskramen, und sich nicht berechtigt glauben, Wettstreite mit Männern einzugehen, am wenigsten mit ihrem eignen Gatten. Er wird diese Vorzüge zeitig genug an ihr entdecken, und die Bescheidenheit seiner Gattinn wird ihren Werth verdoppeln. Die Mannspersonen haben einmal eine höhere Meynung von ihren Geisteskräften, als von den unsrigen. Sie sehen es also lieber, daß wir von ihnen zu lernen scheinen, als daß wir Miene machen, sie belehren zu wollen.«

Diese liebenswürdige Frau sagte dieß mit dem angenehmen Wesen, welches ihr so eigen ist, und wir setzten diese Unterhaltung noch eine Weile fort. Ich gehe jetzt mit doppeltem Vergnügen nach der Mühle, wo ich sie kennen lernte. Ihr Umgang ist mir mehr werth, als die Gesellschaft aller übrigen Damen unsrer Stadt. Um Ihrer Vaterstadt, liebe Sophie, kein Unrecht zu thun, gebe ich gern zu, daß noch viele vortreffliche[97] Frauenzimmer hier seyn können, die mir unbekannt sind, und die auch das Vorurtheil, welches man hier gegen mich hat – (und auch wirklich gute Menschen, denen es nur an Zeit und Gelegenheit mangelt, sich genauer von der Ungründlichkeit desselben zu überzeugen, können gegen mich eingenommen seyn –) von meinem Umgang zurückhält. Aber im Ganzen stehen doch, wie Sie selbst mir oft sagten, Ihre Landsmänninnen nicht eben im besten Ruf. Ich kenne, wie Sie wissen, nur wenige. Einige Familien begegnen uns zwar mit vieler Achtung, die andern aber rümpfen doch noch immer das vornehme Näschen, wenn sie mich sehen. Ich beruhige mich deswegen sehr leicht, und überlasse es der Zeit, sie billiger zu machen. Ich würde, wenn auch diese Hinderung nicht wäre, meinen Umgang doch nur auf eine kleine Anzahl einschränken. Ich bin nicht für große Gesellschaften, und sie würden mich auch nur in meinen[98] häuslichen Geschäften und hauptsächlich an der Erziehung meines Kindes hindern, die doch meine erste Pflicht ist. Dieser liebe Knabe ist mir zu theuer, als daß ich ihn ohne wichtige Ursachen, bloß um meines Vergnügens willen, das im Grunde nicht einmal wahres Vergnügen ist, den Gefahren aussetzen sollte, die seinem Geist und Körper unter den Händen des Gesindes drohen. Ich begreife nicht, wie es möglich ist, daß Mütter von mehreren liebenswürdigen Kindern sie so ganz verwahrlosen können; wie es möglich ist, daß sie alle Tage ihren Vergnügungen nachhängen, und diese unschuldigen Kleinen dem unachtsamen Gesinde überlassen. Leuten, vor welchen sie sorgfältig geringere Schätze verschließen, überlassen sie das, was ihnen der kostbarste Schatz seyn sollte, ein Kind in dem Alter, wo die zarte Seele willig jeden Eindruck aufnimmt, und wo so vieles darauf ankömmt, gute Eindrücke in ihre Herzen einzuprägen, und sie vor den bösen zu hüten![99]

Doch ich vergesse, liebe Sophie, daß ich Ihnen einen Freundschaftsbrief, und keine moralische Abhandlung, schreiben wollte. Ueberdieß ist auch Ihr theilnehmendes Herz gewiß zu sehr mit dem Kummer Ihrer Freundinn beschäftigt, als daß Ihnen etwas anders interessant seyn könnte. Es fällt mir schwer, Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre liebe Marie auf einige Wochen verlassen müssen. Ihr Herr Onkel wünscht Ihre Gegenwart; er ist etwas unpaß, und dringt darauf, Sie hier zu sehen. Ich kann mir vorstellen, wie sehr meine zärtliche Sophie dabey leiden wird, daß sie Marien jetzt verlassen soll, da sie Ihres Beystandes so sehr bedarf. Indessen wird es zu Ihrer Beruhigung dienen, daß doch die wackere Frau Pastorinn ihr bleibt, und diese wird sich gewiß mit aller Sorgfalt der armen Leidenden annehmen. Morgen schon wird der Wagen kommen, um Sie abzuholen. Ich werde Sie also bald wirklich an mein Herz drücken,[100] theuerste Sophie, und Ihnen selbst sagen, wie ich mit ganzer Seele bin

Ihre

zärtliche Freundinn,

Julie Karlsheim.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 92-101.
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