Dreyundsechzigster Brief

Eduard an Barthold

[75] Wenn Ihr Leute mit kalter Vernunft und kaltem Herzen Euch doch nicht anmaaßtet, über die Empfindungen warmer, gefühlvoller Menschen zu urtheilen! Kreuzen und segnen möchte man sich vor einem solchen Moralisten! Was soll wir Dein Brief? Ich kann Deinem Rathe nicht folgen. Mit einem blutenden Herzen und halb zerrütteten Seelenkräften bin ich der menschlichen Gesellschaft nichts nütze. Was liegt auch am Ende dran, ob einer mehr oder weniger unter ihr herumgeworfen wird? Meine Seele ist zu fest an Mariens Schicksal geknüpft, als daß ich von hier reisen könnte. Muß ich nicht zu ihrer Beschützung bleiben? Könnte nicht sonst der tolle Albrecht sie zu einem Opfer seiner Wuth machen? Ich kann und darf nicht von hier. Schreibe mir nichts mehr davon.[75]

Ich werde mein Leben da beschließen, wo Marie das Ende ihres Leidens finden wird. Ein Grab soll die Ueberreste der unglücklich Liebenden bedecken, und so vereint sollen unsre Leichname ruhen, bis zu jenem großen Tage der Auferstehung. Dann werden wir mit einander aus dem Staube hervorgehen zu dem Gott, der unsre Seelen so einstimmig für einander schuf, um sie einst ewig unzertrennlich zu verbinden. Ewig unzertrennlich! Fühlst Du, was das heißt? Und ich sollte hier mich von ihr trennen? sollte nicht mit ihrem letzten Hauch auch den meinigen mischen?

Nein, Marie, Inniggeliebte, ich lasse dich nicht. Die Stunde deines Hinscheidens soll auch die meinige seyn, und so lange will ich harren, bis die wohlthätige Hand des Todesengels uns abruft. Tod, sonst mir schrecklich, jetzt ein unaussprechlich süßer Name! beflügle deine Schritte! Du allein kannst mir wiedergeben, was Menschen mir raubten! Scheußliches Gerippe! du bist mir[76] lieblicher, als das holde Lächeln der Braut dem Heißverliebten. Wärest du doch schon da, seliger Augenblick, der mich mit Marien vereinigt!

Geliebte, Engel des Himmels! hast du nicht auch diesen Wunsch? O ja gewiß! Unsre Gefühle sind ja so einstimmig! Und du selbst schriebst mir ja diesen Trost der Zukunft! Ach! sahest du vielleicht vorher, daß oft der Gedanke mich überfallen würde, meinem Leben ein Ende zu machen? Schriebst du mir darum diese erquickenden Zeilen?

Sey ruhig, Theure! Mit feurigen Zügen stehen deine Worte in meinem Herzen, und nie wird dein Eduard durch eine so kleinmüthige Handlung sich deiner unwerth machen! Ich will geduldig ausbüßen, ohne zu murren. Dank dir, du Engel, daß du mein innres Toben so sanft stimmtest!


Fortsetzung.

[77] Ich habe den Gefährten meines Kummers gefunden. Ich kehrte, wie gewöhnlich, des Nachts von Mariens Fenster zurück, und hörte eine winselnde Stimme auf dem Kirchhofe. Ich gieng hinzu, und sah im Mondenschimmer einen Jüngling auf einem Grabe sitzen und jammern.

»Wer bist du, Freund, der du in der schauerlichen Stunde der Nacht hier sitzest und wehklagst? Verlorst du eine Geliebte? Entriß man sie dir durch Gewalt oder Trug? Oeffne mir dein Herz. Ich will Balsam in deine Wunde gießen.«

»Ja, Herr, ich verlor ein Mädchen, das schönste des Dorfs. Sie war so gut, so zärtlich. Jedermann beneidete mich um ihren Besitz.«

»Und wer raubte sie dir?«

»Ihr eigner Vater. Er widersetzte sich unsrer Liebe, weil ich nicht reich genug war, und wollte sie zu einer andern Heyrath zwingen. Ich[78] gieng des Nachts heimlich zu ihr. Er überfiel mich, als ich aus ihrem Fenster stieg, und schlug mich mit Hülfe meines Nebenbuhlers halb todt. Er sperrte das Mädchen ein, begegnete ihr sehr hart, und wollte ihr mit Gewalt den andern aufdringen. Sie sträubt sich vergebens. Der Tag der Hochzeit wird angesetzt. Sie hat kein andres Mittel mehr als mit mir zu entfliehen. Sie eilt in dunkler Nacht aus ihrem Hause, um zu mir zu gehen. Sie tritt fehl auf einem schmalen Stege, der über unsern Fluß führt, und ich selbst finde den andern Tag ihren todten Leichnam im Wasser! Ich wollte ihr nachstürzen, aber man hielt mich zurück. Ich fiel in ein hitziges Fieber und rasete. Unser Herr Pfarrer brachte mich zur Vernunft zurück. Ich würde meine Hanne im Himmel wieder finden, und den würde ich verscherzen, wenn ich selbst Hand an mich legte, sagte er. Er ermahnte mich auch, wiederum[79] eben so fleißig meine Arbeit zu treiben, wie vorher. Das thue ich auch am Tage, aber des Nachts sitze ich auf ihrem Grabe und weine.«

Ich schluchzte laut: »Wie heißest du, Unglücklicher?«

»Ich heiße Schwarze. Aber Henrich höre ich lieber. So nannte mich meine Hanne.«

»Hast du noch Eltern, Henrich

»Nein. Ich bin allein, und gehe auf Tagelohn.«

»Nun, armer Henrich, so geh mit mir. Ich will dich unterhalten. Du sollst mehr mein Freund als mein Diener seyn. Ich hatte auch ein zärtliches Mädchen, das ich verlor. Komm mit mir, guter Junge! Wir wollen mit einander klagen und einer in des andern Jammer Trost finden.«

Seitdem ist er bey mir. Jede Nacht gehen wir zusammen aus: er zu dem Grabe seiner Hanne, ich vor das Fenster meiner Marie. In[80] schweigendem Tiefsinn kehren wir zurück, und so wird ein Tag nach dem andern dahin schleichen, bis endlich der so sehnlich gewünschte erscheint.

Eduard.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 75-81.
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