Zweyundsechzigster Brief

Barthold an Eduard

[72] Um Gottes willen, Eduard! was fängst Du an? Willst Du Dein eigner Mörder werden? Was hilft Marien alle Dein Jammern und Wehklagen? Hat sie wohl die mindeste Erleichterung davon? Du zehrst die Kräfte Deines Körpers[72] und Deiner Seele ab, und bringst Dich vor der Zeit zum Grabe. Ist das der Gebrauch, den Du von Deinen Fähigkeiten zu machen schuldig bist, daß Du unthätig in einer Bauernhütte sitzest und winselst? Ermanne Dich, Eduard, komm zu mir, verlaß den traurigen Ort, und suche durch Geschäfte Deinen Kummer zu zerstreuen. Denke, daß Dir Gott Verstand und ein edles Herz gab, um Deinen Nebenmenschen zu nützen, nicht um beydes durch Gram über Sachen aufzureiben, die Du doch nie wirst ändern können. Marie würde ihrer selbst unwürdig handeln, wenn sie jemals Deiner Liebe Gehör gäbe, und Du verdientest nicht, jemals von ihr geschätzt worden zu seyn, wenn Du ihr einen Antrag dieser Art thun könntest. Aber es ist nicht genug, daß Du diese Liebe gegen sie nicht äußerst, Du mußt sie auch zu unterdrücken suchen, und ihr nicht noch immer mehr Nahrung geben.[73]

Höre auf meine Bitten, bester Freund! Komm zu mir. Wir wollen uns mit einander bemühen, des armen Ferdinands Aufenthalt zu erforschen, um ihn zu retten. Der Gedanke an den unglücklichen Jüngling macht mich sehr traurig. Wüßte ich nur, wo er wäre, so wollte ich ihm schnell zu Hülfe eilen. Gott! wenn sein Vater seinen Zustand erführe! Der Sohn, auf den er so feste Hoffnungen künftiger Größe baute, ist jetzt unter Dieben und Räubern! Wie würde der Alte sein graues Haar zerraufen! Er hat schon jetzt keine frohe Stunde mehr, und schreibt mir immer die rührendsten Briefe.

Lebe wohl, Bester; ich sehe mit der stärksten Erwartung Deiner Ankunft entgegen, und bin versichert, daß mein Eduard jetzt schon selbst das Unanständige seiner Lage fühlt, und eilen wird, sie mit einer andern, seiner würdigern, zu vertauschen.

Dein zärtlichster Freund,

Barthold.[74]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 72-75.
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