Einundsechzigster Brief

Eduard an Barthold

[69] Da hast Du Ferdinands Brief. Rette ihn, wenn Du kannst, und suche zu erforschen, wo er sich aufhält. Mir ist es nicht möglich, die Gegend zu verlassen, in welcher der leidende Engel wohnt. Ich lebe in einer Bauerhütte, einsam und unerkannt, und suche die einzige Wollust bey meinen Leiden darinn, daß ich des Abends um das Pfarrhaus herum gehe, und dann durch das Dunkle der Nacht den Schein ihrer Lampe schimmern sehe.[69]

Gestern wagte ich es durch ihr Fenster zu blicken, und o Gott! wie ward mir da, als ich ihre himmlische Gestalt sah! In ein weißes Gewand gekleidet, schien sie mir ein schon verklärter Engel zu seyn. Sie schwebte mit matten Schritten im Zimmer umher, sank dann kraftlos auf einen Stuhl und weinte. O ihr Mächte des Himmels, was fühlte da mein Herz! Vielleicht mischte ein Andenken an mich sich in diese Zähren, und ich Elender durfte nicht hinein, sie zu trocknen, und stand ihr doch so nah! Hätte ich nur eine Thräne von diesen Wangen wegküssen dürfen, so würde die unbändig tobende Hitze in mir gelöscht seyn; aber so waren diese Tropfen brennende Quaalen für meine Seele.

O Himmel! kannst du es zulassen, daß das edelste Geschöpf, geschaffen zum Vorbild ihres Geschlechts, solchen Schmerzen unterliegt? daß sie, die die Anbetung der ganzen Welt verdiente,[70] als eine Schändliche verachtet und verstoßen wird? O Schicksal, o Menschheit!

Barthold! oft liege ich ganze Nächte hindurch vor ihrem Fenster. Wenn ich dann meine Arme vergebens nach ihr ausstrecke, und nun der grauende Tag mich von ihrer Thür wegtreibt, dann eile ich in mein einsames Lager zurück, aber der Schlaf flieht mich. Schreckliche Bilder stehen vor meiner Einbildungskraft; matt und kraftlos stehe ich wieder auf, um dem neuen harmvollen Tage entgegen zu gehen! Habe Mitleid mit mir, Barthold! Oft scheints, als verlassen mich meine Sinne. Wärs Wunder, wenn der Schmerz sie zerrüttete, da ich ihn so ganz in meiner Brust verschließen muß? Keine Seele um mich, die mich versteht. Ach wäre noch ein eben so Unglücklicher als ich auf der Erde – (doch das ist nicht möglich –) o so wollte ich ihn mir zum Gesellschafter wünschen. Wie wollte ich mich an seinem Umgange laben! Die Luft würde von[71] unsern wechselseitigen Klagen ertönen. Thränen sollten unser Trank, und Seufzer unsre Speise seyn!

Hier ist niemand, der mein Leiden fühlt. Lauter unbefangne heitre Gesichter, auf welchen man keine Spur des Kummers sieht. Ich möchte rasend werden, wenn ich diese fröhlichen Leute sehe und ich – und Marie! Wüthend laufe ich auf mein Zimmer, wenn mich der Gedanke ergreift, und überlasse mich meinem tödtlichen Schmerz.

Eduard.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 69-72.
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