Sechzigster Brief

Ferdinand an Eduard

[43] Wenn Du noch an einen Elenden denken magst, der mit jedem Augenblicke sich und sein verdammtes Schicksal verwünscht, so lies diesen Brief. Doch ich verdiene nicht, daß ein Rechtschaffner an mir Theil nimmt. In der schändlichsten Verbindung, unter Leuten, die das Fünkchen Ehre, das noch bey mir übrig ist, mich verabscheuen läßt, an die aber mein unseliges Schicksal mich fest geschmiedet hat!

O daß ich den besten, treusten Rath verachtete, daß jener Nichtswürdige und seine verdammte Buhlerinn mich so fest in ihren Netzen hielten! Wie mögen sie über meine Einfalt gelacht[43] haben! Tod und Verdammniß! Das Spiel solcher Elenden gewesen zu seyn!

Ich wagte es nicht, einen Menschen anzusehen. Sogar vor der Wache und vor meiner Aufwärterinn schlug ich beschämt die Augen nieder. Es schien mir, als wäre ich sogar das Ziel des Spottes bey solchen Leuten geworden. Ein Brief meines Vaters brachte mich vollends zur Verzweiflung. Der arme Greis! Wenn er wüßte, was jetzt aus seinem Sohn geworden wäre! Doch vermuthlich schreyt schon sein entflohner Geist Rache über mich! Weh mir! Er schied, dem ungerathnen Sohne fluchend, aus der Welt! Die Haare steigen mir zu Berge! Weh mir!

Aber was soll das Winseln? Es schickt sich nur ein abgehärtetes Herz für mich Elenden. Ich will ununterbrochen weiter erzählen:

Ich stieg des Nachts aus meinem Kammerfenster auf das Dach eines Stalls; von da kam ich mit leichter Mühe herunter, und nun eilte[44] ich unbemerkt über die Stadtmauer aus der Stadt. Nun gieng ich mit starken Schritten auf einem mir unbekannten Wege fort. Es war mir gleichviel, wohin. Ich hatte ja keinen Vater, und kein Vaterland mehr! Gegen Mittag hatte ich, meiner Rechnung nach, wenigstens fünf Meilen gemacht. Furcht und Verzweiflung hatten mich keine Ermattung fühlen lassen. Aber nun wollten mich meine Füße nicht weiter tragen. Aus Hunger und Müdigkeit schlief ich unter einem Baum im Walde ein, und wachte erst des Abends spät wieder auf. Durch diesen Schlaf, den ersten, den ich seit einigen Tagen genoß, gestärkt, setzte ich meinen Weg fort, und gieng die ganze Nacht durch. Am andern Morgen konnte ich das Schreyen meines Magens nicht mehr ertragen; bisher hatte ich mich gefürchtet, einen Menschen anzureden, jetzt aber glaubte ich mich sicher, und eilte auf ein entlegnes Haus zu, das ich an einem einsamen Orte erblickte.[45]

Ich pochte an. Nach langem Warten öffnete man mir die Thür. Ein altes Weib – glaubte man noch an Hexen, so würde ich sie für die Oberste derselben gehalten haben – sah mich mit ihren triefenden Augen forschend an, und fragte: Was ich wollte, wo ich herkäme, und wer ich sey?

»Ich bitte um einen Bissen Brod, bin ein Reisender, und kann vor Hunger nicht weiter gehen.«

Sie machte mich noch mit tausend Fragen toll: wer denn meine Reisegefährten wären, wo ich mein Pferd hätte, und dergleichen mehr. Ich Ich sagte endlich höchst erbost:

»Ich bin nicht zum Examen hieher gekommen, sage Sie nur, ob Sie mir was zu essen geben will oder nicht; sonst geh ich weiter.«

»O ja warum nicht? mein lieber Herr Baron, Dieß Haus ist zwar kein Wirthshaus für jedermann, aber einem so hübschen jungen Herrn,[46] als Sie, thut man wohl einen Gefallen. Ich bin immer sehr mitleidig gegen die hübschen Mannspersonen gewesen, und –«

»Das glaube ich gern. Aber sey Sie auch jetzt so mitleidig, und gebe Sie mir zu essen. Ich kanns nicht länger aushalten.«

»Mein Sohn hat einige Bekannte mitgebracht, auch recht artige Leute, die – –«

Ich war des Geschwätzes mit der häßlichen alten Vettel satt, und drang, ohne auf sie zu hören, mit Gewalt in die Stube. Eine verfluchte Hexe! Sie legt sich, glaub' ich, auf die Kunst, den Hunger durch Worte zu befriedigen!

Dieses Ausrufs wegen betrachtete mich die ganze honorable Gesellschaft aufmerksam. Sie bestand aus Kerlen, deren rauhe schreckliche Gesichtsbildungen mir noch mehr aufgefallen seyn würden, wenn ich nicht so beschäftigt mit meinem Frühstück gewesen wäre. Als dieses verzehrt war, betrachtete ich sie noch einmal, und alle[47] misfielen mir aufs höchste, einen jungen Menschen ausgenommen, der in einer Ecke saß, und eine edle, aber traurige Miene hatte. Ich wollte sogleich weiter gehen, weil es mir hier sehr misfiel, als einer von ihnen mich sehr höflich fragte, wo ich denn hinzureisen gedächte? Ich antwortete ihm: ich könnte den Ort nicht genau bestimmen, ich wollte Kriegsdienste suchen. (Es war auch mein Plan Mousquetier zu werden.)

»Ey, ein junger Mann von ihrem Ansehen sollte sich doch nicht todtschießen lassen. Glauben Sie, mein Herr, das ist eine garstige Sache.«

»Wem das Leben eine Last ist, dem kann es auch gleichviel seyn, auf welche Art er es verliert!«

»In Ihrem Alter pflegt man doch sonst das Leben zu lieben.«

»Ja, aber es kann Unglücksfälle geben, die uns das Gegentheil wünschen lassen. Doch dieses[48] Reden macht Ihnen Langeweile, und mir nur unangenehme Erinnerungen. Leben Sie wohl, meine Herren!«

»Junger Mann, Sie flößen mir viel Theilnehmen an Ihrem Schicksal ein. Können Sie mir nicht mehr davon sagen?«

»Ersparen Sie mir eine Erzählung, die Ihnen und mir unangenehm seyn würde. Ich muß gehen.«

»Hören Sie, mein Herr, ich fühle eine starke Neigung gegen Sie. Ihre Aussichten als Soldat sind ungewiß, Ihre Börse ist wahrscheinlich nicht im besten Zustande.« (Dieß mußte er bemerkt haben, als ich meine Rechnung bezahlte.) »Bleiben Sie bey uns. Ich will für Ihren Unterhalt sorgen, und Sie werden sehen, daß Sie ein angenehmes Leben gewählt haben.«

»Sie sind sehr gütig, aber darf ich fragen, worinn meine Beschäftigung bestehen sollte?«[49]

»Das heißt – sagte er lächelnd – wer wir sind? Wir sind Leute, die sich bemühen, die Glücksgüter, welche das Schicksal oft an den unrechten Mann gebracht hat, besser auszutheilen. Es versteht sich, daß wir uns selbst bey dieser Theilung nicht vergessen.«

Schrecken und Abscheu erfüllten mich; denn ich sah nun, unter welchen Menschen ich mich befand. Ich wünschte mich weit entfernt. Brand, so hieß der Redner, schien meine Bestürzung zu merken:

»Sie haben gewiß auch das Vorurtheil der Welt gegen uns, und doch sind wir verdienstliche Leute. Wir halten manche durch unsre Beraubung von einer schlechten Anwendung ihres Geldes ab. Wir bringen manchen Müßiggänger zur Arbeit zurück, und wahrhaftig, wir wissen sein Geld gut zu gebrauchen. Sagen Sie mir, handeln wir schlechter, als viele angesehene Männer, die sich durch List und Betrug[50] ein großes Vermögen sammlen? Ist es rechtmäßiger, durch List, als durch Gewalt rauben? Nein, die Welt ist gewiß ungerecht, uns den Namen Diebe und Räuber zu geben, und jene größern Spitzbuben ruhig im Besitz ihres Vermögens zu lassen, und mit Ehre und Ansehen zu schmücken. – Sie schweigen, und schütteln den Kopf? Hören Sie, junger Mensch, Sie werden hoffentlich selbst so klug seyn, zu glauben, daß wir Sie, unsrer Sicherheit halber, nicht so können wiederum weggehen lassen, wie sie angekommen sind. Sie wissen unsre Geheimnisse, und das wäre für uns gefährlich.«

»Ich verspreche bey meiner Ehre – –«

»Das Versprechen hilft uns nichts. Sie würden es bey der ersten Gelegenheit wiederum brechen. – Wir schreiten ungern zu Gewaltthätigkeiten, wenn wir unsern Zweck in Güte erreichen können; bey Ihnen aber wird es nothwendig seyn. Wählen Sie also: Entweder wir[51] machen Sie durch den Verlust Ihrer Zunge und rechten Hand unfähig uns jemals zu verrathen, und dann können Sie gehen, wohin Sie wollen, oder Sie schwören, uns treu zu bleiben. Es sollte mir leid thun, wenn das erste geschehen müßte – einen andern Ausweg erlaubt uns die Strenge unsers Gesetzes nicht – denn Sie scheinen mir ein beherzter Mann von gutem Kopf zu seyn. Beydes ist nothwendig zu unserm Metier, und darum fiel meine Wahl gleich auf Sie. Nun, wie stehts? Bedenken Sie sich kurz.«

Ich fühlte jetzt die ganze Strafe meines Verbrechens, die mir so schnell nachfolgte, da sie mich in die Hände dieser Nichtswürdigen fallen ließ. Ich, der ich mir immer so viel auf meinen Muth zu gute that, zitterte vor Schrecken. Verstümmelt zu werden, welch ein grausames Schicksal! Und doch, Räuber! Dieb! das schallte fürchterlich in meinen Ohren. Aber es blieb mir[52] ja immer noch die Hoffnung zu entwischen; ich war ja doch ein verlorner Mensch. Entlaufen, vom Vater enterbt, mein Name vielleicht als infam an die Ecken der Stadt geschlagen! Wie lächerlich, in meiner Lage von Gefühl der Ehre reden zu wollen! Was ist es denn weiter? Eine Stufe niedriger als jetzt. Andre Entwürfe des Glücks sind doch für mich verloren. Der junge Mensch blickte mit einem äußerst rührenden Wesen auf mich. Alles das zusammen, und ich sagte: Ja. Nun erschallten Glückwünsche und Freudengeschrey von allen Seiten. Es wurde noch eine Schüssel auf den Mittag bestellt, und alle faßten den Vorsatz tapfer auf meine Gesundheit zu saufen. Nun war ich ein Genosse von Leuten, die der Auswurf der Menschheit sind. Bloß der Hauptmann Brand hatte noch einen kleinen Anstrich von ehemaliger guter Erziehung übrig behalten. Um meinen Kummer zu zerstreuen, erzählte er mir seine Geschichte. Ich will[53] sie auch Dir mittheilen, aber heute ist es mir unmöglich. Ich muß schließen.


Fortsetzung.

In der Gesellschaft meiner Bundsgenossen verabscheue ich mich selbst. In der Einsamkeit foltern mich auch unaufhörliche Vorwürfe. Um meinen Schmerz zu verjagen, will ich des Hauptmanns Erzählung wiederholen:

»Eine sogenannte feine Erziehung habe ich freylich gehabt, und mein Vater dachte wohl nicht, daß ich einmal der Vorsteher einer so honorablen Gesellschaft werden würde; denn als ich ihm von der Wehmutter überreicht wurde, verdoppelte er bey der Nachricht von meiner Knabenschaft das Geschenk, welches er ihr machen wollte. Und von der Zeit an war ich sein Augapfel und meiner Mutter Herzblättchen. Beyde erzogen mich mit der größten Sorgfalt;[54] das heißt: sie hatten alle mögliche Aufmerksamkeit, mir in allen Dingen meinen freyen Willen zu lassen; denn meiner Mutter Hauptgrundsatz war: daß man die Kinder nie ärgern müsse, weil der Aerger der Gesundheit schade. Ihre Zärtlichkeit hatte denn auch so vortreffliche Wirkung auf mich, daß ich noch vor dem vierten Jahre allgemein gefürchtet ward. Ich übte alle möglichen Tyranneyen an meinen Geschwistern, Gesinde, Hunden und Katzen, ja zuweilen auch an meinen liebwerthesten Eltern selbst aus. Diese freuten sich denn immer gewaltig über meine witzigen Einfälle, wie sie es nannten.

Ja, sagte mein Vater und nahm mich auf seinen Schooß, aus unserm kleinen Georg wird noch einmal ein ganzer Mann werden.

Wenn das liebe Kind nur leben bleibt, – erwiederte meine Großmutter und schüttelte den Kopf, der ohnehin schon sehr stark auf dem Rumpfe wackelte – es ist mir gar zu klug für[55] sein Alter, und die Kinder, welche so früh klug werden, kommen selten auf. So sagt das Sprüchwort.

Sprüchwort hin, Sprüchwort her. Der Junge wird schon groß werden. Nicht wahr, Schorschen, aus dir wird noch einmal ein großer Jurist?

Ey Gott behüte! Juristen, böse Christen. Ich will das auf Sie nicht gedeutet haben, Herr Sohn – mein Vater war Justizrath – aber ein Advokat soll er nicht werden. Es wird gewiß einmal ein Superintendent aus ihm. Nicht wahr, Kind?

Ich hatte mich während der Hitze des Streits ganz sachte von meines Vaters Schooß unter der Großmutter Stuhl geschlichen, und stach sie mit einer großen Nadel auf eine schmerzhafte Art an einen empfindlichen Ort, der bey ihr nicht mehr mit vielem Fleisch überzogen war. Sie sprang, vor Schmerzen über den kleinen[56] Superintendenten laut schreyend auf, und mein Vater lachte in seinem Stuhl, daß er mit beyden Händen seinen dicken Bauch halten mußte.

Aehnliche Streiche spielte ich auch meinen Informatoren. Verstanden sie es unrecht und wollten mich bestrafen; so klagte ich es der Mama, und die machte sie denn für ihre Grobheit gar weidlich herunter. Auch mein Vater meynte, daß Strenge das Genie bey mir unterdrücken würde. Dadurch kam es denn so weit, daß kein Lehrer mehr in unser Haus ziehen wollte. Dieß war mir gerade recht. Ich lief nun ungestört auf der Straße herum, und wurde bald durch die feine Geschicklichkeit berühmt, mit der ich meinen Kameraden ihr Naschwerk wegzukapern wußte. Aber leider endigte sich diese Freude bald.

Herr Treuwerth wurde meinem Vater von einem würdigen Manne zum Hofmeister bey mir vorgeschlagen, und zog bey uns ein. Er betrug[57] sich gegen mich immer sehr leutselig, aber mit einem gewissen ernsten Wesen, welches mich im Anfange scheu machte, meine dummen Streiche vor ihm auszuüben. Er hielt oft die rührendsten Ermahnungen an mich, die auch zuweilen wirklich Eindrücke machten. Aber die Gesellschaft des Gesindes, der Straßenbuben – denn hievon versuchte er vergeblich mich zurückzuhalten – vertilgten diese Eindrücke bald wieder. Die Spöttereyen der Bedienten, auch oft meine Mutter selbst – (in die Ungnade der letzten war er gefallen, weil er einmal behauptete, eine Mutter sey verbunden ihr Kind selbst zu stillen. Der gute Mann wußte nicht, daß sie bey uns allen Ammen gehabt hatte –) die ihn nur den Pedanten nannte, und der Zwang, den ich mir in seiner Gegenwart anthun mußte, machten ihn mir fatal.

Ich fieng an, ihn durch Ungehorsam und allerley Neckereyen recht vorsätzlich zu ärgern,[58] aber er wußte mich die erstenmale so ernsthaft zu behandeln, daß mir der Muth zu ähnlichen Versuchen vergieng.

Aber meine böse Natur brach bald durch. Und die Rathschläge der Bedienten, welchen er verhaßt war, weil er nicht mit ihnen soff und Karten spielte, wie der letzte Informator gethan hatte, trugen auch dazu bey, daß ich bald anfieng, ihn aufs neue durch allerley Beleidigungen so oft und vorsätzlich zu ärgern, daß er es meinem Vater klagte, und ihn um Erlaubniß bat, den Stock bey mir gebrauchen zu dürfen; denn er merke, daß ich mich zu sehr auf die Bedingung verließe, die ihm verbiete, mich zu schlagen.

Mein Vater verweigerte es, und Herr Treuwerth erklärte: wenn man ihm dieses Mittel, das einzige, welches noch wirksam bey mir seyn würde, nicht gestatten könne, so müsse er um seinen Abschied bitten.[59]

Mein Vater wollte ihn nicht gern verlieren; denn es war sichtbar, daß ich in der Zeit, die er da war, viel gelernt hatte. Er bat sich also Bedenkzeit aus. – Ich hatte sie behorcht, und wußte meine Mutter durch Schmeicheleyen so sehr auf meine Seite zu bringen, daß sie alles anwandte, meinen Vater zu vermögen, Treuwerth seinen Abschied zu geben. Er wollte aber durchaus nicht daran, und sie erhielt weiter nichts, als das Versprechen von ihm, daß er durchaus nicht gestatten wolle, daß ich geschlagen würde. Der Mittag kam, und Treuwerth erschien bey Tische. Nun waren die Sticheleyen und Grobheiten meiner Mutter gegen ihn so groß, und ich lachte so triumphirend dazu, daß er noch denselben Tag unser Haus verließ.

Seine Stelle bekam Herr Gutmann, die frömmste Seele, die man sich denken kann. Ich konnte bey ihm machen, was ich wollte, und er lachte immer herzlich mit, wenn ich ihm[60] heimlich das Gesicht schwarz gemalt hatte, und er dann, durch das Lachen der Bedienten aufmerksam gemacht, im Spiegel seine schöne Gestalt erblickte. Meine Fertigkeit in allerley listigen Streichen nahm nun auch so sehr zu, daß meiner Eltern Geldschränke keinen Augenblick sicher vor mir waren. Mein Vater bemerkte den Verlust einer starken Summe. Er visitirte und fand einige auszeichnende Stücke bey mir. Beweis genug gegen mich. Zu dieser Entdeckung kamen noch allerley andre hinzu, die ihn so aufbrachten, daß er mich – zum erstenmal in seinem Leben – tüchtig ausprügelte. Ich wollte mich meiner Haut wehren; er sperrte mich also, weil das Schlagen nicht angieng, auf mein Zimmer, und schickte mich ein paar Tage nachher, alles Sträubens von meiner Mutter ungeachtet, in eine Pension, mit der Bitte, mich äußerst strenge und in der genauesten Aufsicht zu halten.[61]

Dieses kam mir sehr spanisch vor. Ich machte mehrmals Versuche zu entlaufen. Sie wurden aber immer vereitelt, und ich mußte ein Jahr an diesem infamen Orte aushalten. Ich hatte in den Stunden, die mir vom Lernen übrig blieben, kein andres Amusement, als witzige Streiche auszusinnen, deren Ausübung ich auf eine günstigere Zeit verschieben mußte. Endlich konnte ich die Strenge, mit welcher man mich zum Fleiß anhielt, nicht länger ausstehen. Ich schrieb also so bewegliche Briefe an meine Mutter, und so weisheitsvolle, mit den besten Versprechungen durchspickte an meinen Vater, daß dieser endlich einwilligte, mich auf die Universität zu schicken.

Ich kam nach Hause, und fand meinen Vater auf dem Todbette. Seine letzten Ermahnungen drangen so auf mich ein, daß ich mit dem festesten Vorsatze, fleißig und ordentlich zu leben, nach Jena gieng. Aber ich war schon zu lange[62] auf dem ungebundensten Wege fortgegangen. Es war zu spät, um noch einen andern einzuschlagen. Das lustige Leben der Musensöhne gefiel mir zu sehr. Mein Vater war todt, und ich rechnete darauf, daß meine Mutter mich nie würde Mangel leiden lassen. Ich lebte also recht flott drauf los, folgte meinem Hange zu Mädchen, und zu Vergnügungen aller andern Art. Es studierte noch ein Mensch da, Namens Schlichtberg, der eben die Art von Talent besaß, die ich hatte. Wir führten auch solche witzige Einfälle auf der Universität aus, besonders an den Professoren und Pedellen, daß wir bald unter allen Burschen berühmt wurden.

So giengen zwey lustige Jahre hin; aber nun erfuhr ich, daß meine Mutter todt wäre, daß das übriggebliebne Vermögen lange nicht hinreichte, die vielen Schulden, die da wären, zu bezahlen, und daß ich also auf keinen Pfennig mehr zu rechnen hätte. Diese Nachricht[63] machte mich zwar anfangs desperat, aber ich hatte das Vergnügen zu sehr geschmeckt, als daß ich meine Lage hätte verändern mögen. Ich ließ also den Muth nicht sinken, und lebte auf Kredit eben so flott fort, wie vorher. Fehlte es mir an Gelde, so nahm ich bey dem einen Juden Uhren und dergleichen Kostbarkeiten aus, für die er mir doppelt so viel anschrieb, als sie werth waren, und verkaufte sie um ein Drittheil des Preises an einen andern. Auch trug das Spiel, welches ich aus dem Grunde verstand, viel dazu bey, meine Kasse in gutem Stande zu erhalten.

Einst wurde ich von einem jungen Edelmann, der eine große Summe an mich verlor – freylich nicht ganz nach dem Laufe des Spiels – öffentlich der Prellerey beschuldigt. Ich wurde hitzig, sagte ihm die gröbsten Schmähreden, und es kam zu einem Duell. Ich erstach ihn, und floh eilig davon, ehe die Sache ruchbar[64] wurde. Unterwegs stieß ich auf eine Truppe Komödianten, und bot mich bey ihnen zum Akteur an, denn ich dachte mir ihre Lebensart ganz passend für meinen Geschmack. Ich schien dem Direkteur nicht unfähig: er nahm mich an, und ich spielte auch wirklich mit großem Beyfall in komischen Rollen.

Unser Direkteur hatte ein junges niedliches Weib, und liebte sie – wider die Gewohnheit der Komödianten – bis zur stärksten Eifersucht. Sie leuchtete mir gewaltig in die Augen, und ich machte ihr allerley Liebeserklärungen; aber sie war keine Buhlerinn, und gab mir niemals Gehör. Endlich gelang es mir durch vielerley List und Kunstgriffe, sie mir geneigter zu machen. Man entdeckte unsern Umgang ihrem Manne, und er überraschte mich im Bette bey ihr in keiner der ehrbarsten Stellungen. Seine Wuth gieng über alle Vorstellung, und ich würde auf eine oder die andre Art ein Opfer derselben geworden[65] seyn, wenn ich mich nicht schleunig aus dem Staube gemacht hätte.

Auf meiner Flucht wurde ich des Abends spät von zwey Menschen an einem abgelegnen Orte angehalten. Sie forderten mir meine Börse ab, und drohten im Weigerungsfall mich zu erschießen.

Mit meiner Börse wird Ihnen eben so wenig gedient seyn, als mit meinem Leben. Hier ist sie – Sie sehen, meine Herren, daß sie ziemlich leer ist. Ich bedaure von Herzen, daß ich Ihnen nicht mit reicherer Beute dienen kann.

Du scheinst mir ein lustiger Teufel. Wer bist du?

Ich offenbarte mich ihnen, und wir gefielen einander so gut, daß ich mich ihrem Hauptmann vorstellen ließ, der mich auch willig annahm. Meine Geschicklichkeit im Beutelschneiden brachte mich bald auf einen ansehnlichen Posten. Und da mein Hauptmann durch seine[66] Dummheit den Galgen zieren mußte – es fielen zugleich noch einige brave Kerle – so sammelte ich den Ueberrest unsrer Bande zusammen, und wurde zu ihrem Oberhaupt erwählt, welchem Amte ich schon vier Jahre lang mit Ruhm und Ehre vorgestanden habe. Nicht wahr, Brüder?«

Ein lautes: Lange lebe noch unser braver Hauptmann Brand! erscholl von allen Seiten. Und nun wurde das Mittagsessen aufgetragen, wobey sich die ganze Gesellschaft den Wein so vortrefflich schmecken ließ, daß sie fast alle taumelnd unter den Tisch sanken. Auf mich hatte die Erzählung des Hauptmanns einen allzudemüthigenden Eindruck gemacht, als daß ich einen Bissen zu essen vermocht hätte. Auch der Jüngling, der mich so sehr anzog, saß tiefsinnig da, ohne an dem pöbelhaften Scherz der andern Theil zu nehmen. Ich fühlte einen starken Hang zu ihm, und würde mich ihm gern genähert haben, wenn nicht Brand – (ob er gleich mehr als[67] die andern gezecht hatte, so war er doch vollkommen bey Sinnen –) ein sehr wachsames Auge auf uns gehabt hätte.

Gegen Abend kamen noch einige andre Glieder der Gesellschaft nach Hause. Sie stutzten bey meinem Anblick. Da ich ihnen aber als ein neuer Genosse vorgestellt wurde, umarmten sie mich, zu meiner Quaal, sehr freudig, und legten dem Hauptmann Rechenschaft von den Streifereyen ab, die sie vorige Nacht unternommen hatten. Auf die künftige verabredete man einen Ausfall auf den Geldkasten einer reichen Wittwe.

Ich bin noch zu keiner Ausführung gebraucht worden, so wenig als Feldheim; man hütet uns aber sehr sorgfältig, so daß es nicht möglich ist, ein Wort mit ihm zu reden.

Ich habe vierzehn Tage an diesem Briefe geschrieben; denn ich muß unter allerley Vorwande die Zeit dazu stehlen. Aber ich verwünsche noch eben so heftig als Anfangs das Schicksal, das[68] mich in diese Mördergrube brachte. – Was soll ich Dir noch weiter schreiben? Du verachtest gewiß

den elenden

Ferdinand.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 43-69.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon