Neunundsechzigster Brief

Sophie an Marien

[109] Der Schmerz, mit welchem ich Sie verließ, meine Marie, geht über alle Beschreibung. Den ganzen Weg über war ich nicht fähig an etwas anders zu denken, als an Sie. Ich sah oft mit wehmüthigem Verlangen nach Ihrem stillen Dorfe, und wünschte mich wieder in das Haus zurück, das die besten Menschen in sich[109] faßt. Ich hoffe gewiß, daß unsre würdigen Freunde sich Ihrer auf alle Art annehmen werden. Die vortreffliche Pastorinn ist gewiß besser im Stande, ihr krankes Herz aufzurichten, als ich Schwache! Doch hoffe ich auch bald wieder bey Ihnen zu seyn; denn mein Onkel bessert sich sehr. Ich fand ihn wirklich viel schlimmer, als die zärtliche Julie mir geschrieben hatte.

Könnte ich Ihnen doch das liebe Weib mitbringen! Ihr sanftes Wesen würde gewiß Ihre Liebe gewinnen. Es ist eine rechte Wonne, die liebenswürdige Frau in ihrem Hause zu sehen, wie die kleinsten weiblichen Geschäfte Anmuth unter ihren Händen erhalten. Sie und ihre Charlotte mit ihren allerliebsten Kindern um sich zu sehen, das ist eine Freude, die sich nicht beschreiben läßt. Gewiß würden auch Sie durch diese liebenswürdigen Kinder erheitert werden, die, ihrer Lebhaftigkeit ungeachtet, doch fast gar nichts von Eigensinn oder Laune besitzen, und[110] äußerst folgsam gegen die kleinsten Winke ihrer Mutter sind, die ich oft kaum bemerke.

Ich fühle es mit starker Ueberzeugung, daß ich für Karlsheim keine solche treffliche Gattinn gewesen wäre, wie sie ihm ist, und es war gewiß eine weise Fügung des Himmels, daß er unsre Verbindung störte. Sein Charakter stimmt weit mehr mit Juliens ihrem überein als mit dem meinigen. – Julie sowohl als er unterholten mich oft mit einem bedeutenden Wesen von Wilhelm. Ich möchte wissen, was sie mit ihm wollen; er hat ja eine Braut, und auch ich werde nicht leicht wieder einen Mann lieben. Ich läugne zwar nicht, daß Wilhelm – doch, was geht er mich an? Ich will es der Gebieterinn seines Herzens überlassen, ihm Lobreden zu halten. –

Möchte ich Sie doch ruhiger wissen, als Sie waren, da ich Sie verließ! Beste Marie, so lange ich Sie so in Kummer versenkt weiß, ist auch alle meine Munterkeit dahin, und keine[111] Freude will mir mehr schmecken; denn in eben dem Augenblick, da sie sich mir darbeut, denke ich an meine theure Freundinn, und das Bild Ihres Leidens reißt auch mich zu ähnlichen Empfindungen hin. –

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 109-112.
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