Siebzigster Brief

Marie an Sophien

[112] Jede Zeile Ihres Briefs athmet Güte und Liebe, zeigt mir das zärtliche Herz meiner Freundinn. Ach Sophie! warum muß mein Kummer meinen Lieben solchen Schmerz verursachen? Ist es nicht genug, daß ich allein leide? O, daß mein Herz so schwach war, und den mächtigen Eindrücken der Liebe nicht zu widerstehen vermochte! Und noch lodert dieß sträfliche Feuer in meinem Busen; noch immer ist er der einzige Punkt, um den alle meine Gedanken sich drehen, beym[112] Schlafen und beym Erwachen! Des Tags und des Nachts auf meinem Lager, von Thränen benetzt, steht er vor mir. Bey jeder Handlung, selbst bey den heiligsten der Religion, stört mich sein Andenken; in meine eifrigsten Gebete zu Gott mischen sich Wünsche für ihn. Ich kämpfe, mich zu besiegen; aber vergebens. Matt vom innern Kampfe, von Seufzern und Klagen, stehe ich von meinem Knien auf, und ringe trostlos die Hände. Ach, ich beleidigte meinen Gott dadurch, daß ich Anfangs dieser sträflichen Neigung nicht genug widerstand; er hat sich von der Sünderinn gewendet! Weh mir! für meine Seele wird kein Trost hienieden mehr seyn! –

Sophie! wenn Eduard auch so elend wäre als ich! Gott im Himmel, er ist ja unschuldig! Ich allein verdiene Vorwürfe. Warum hatte ich nicht ein eben so festes Vertrauen auf seine Liebe, wie er auf die meinige! Doch diese Betrachtungen dienen nicht, mich zu beruhigen. Ich will[113] hoffen, daß seine Seele – sie ist ja die Seele eines Mannes, vom stärkerm Stoff gebaut als ich – solchen Leiden nicht unterliegt wie die meinige.

Ach! daß ich fähig wäre, etwas anders zu denken und zu schreiben, als von ihm! Kommen Sie doch wieder zu mir, meine Sophie. Mich dünkt, vor Ihnen schäme ich mich der Schwäche meines Herzens nicht so, wie vor unsrer Matrone. Wäre sie nicht so sanft und liebreich, ihr Herz nicht ein so herrlicher Tempel der edelsten Menschenliebe, so müßte sie mich verachten; aber so sieht sie mitleidig und gütig auf meine Schwäche, und sucht stets mich aufzurichten. Durch ihre Vorsorge gerührt, stelle ich mich oft erheitert, um sie nicht zu kränken; aber dieser Zwang kostet mich sehr viel.

Meine Schwäche gestattet mir nicht mehr zu schreiben. Leben Sie wohl, Theure, und grüßen Sie Ihre liebe Julie von mir.

Marie.[114]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 112-115.
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