Einundsiebzigster Brief

Eduard an Barthold

[115] Ein Strahl von Hoffnung erhellt die düstre Nacht, die mich umgiebt. Ich habe einen Kundschafter in der Stadt, der mir von allen Bewegungen Albrechts Nachricht geben muß, damit ich jede Gefahr sehe, die meiner Marie droht. Dieser nun schreibt mir, daß der Unwürdige mit einem Mädchen sehr vertraut umgeht, welches er schon vor seiner Heyrath kannte, und daß er um die Scheidung von Marien anhalten will.

Der unaussprechlich Nichtswürdige, der im Stande ist, einen reinen Engel einer Buhlerinn aufzuopfern! Aber wenn er selbst das Band löset, in welches er sie wahrscheinlich durch Verrätherey verwickelte, so ist sie wieder so frey, wie vorher, als noch jene glückliche Zeit war. Barthold! wenn sie wiederkehrte, diese seligste Zeit[115] meines Lebens! Marie, himmlisches Mädchen, wenn du noch mein würdest! Ich wollte an deinem Busen, dem Göttersitz der Liebe, alles vergessen, was ich um dich litt. Wie wollte ich durch unaussprechliche Zärtlichkeit dich für deinen Kummer trösten! Welches selige Gefühl, deine Thränen zu trocknen!

Aber wäre die Seligkeit nicht zu groß für mich? Ich fühle, daß ihre Seele weit über der meinigen steht. Doch mit himmlischer Güte würde sie mich zu sich hinauf ziehen, auf eine höhere Stufe mich heben. Willig würde ich dir folgen, du Engel! Meine Gedanken verwirren sich in dem süßen Taumel. Ich muß diesen Phantasien in der Einsamkeit nachhängen.

Eduard.[116]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 115-117.
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