Zweyundsiebzigster Brief

Marie an Sophien

[117] Wie hart straft der Himmel den Fehler, den ich begieng, da ich mein Herz so verwahrloste! Ich bin verlassen, entehrt, der ganzen Welt als eine Lasterhafte zur Schau gestellt! Dieser letzte Schlag hat mein Leben getroffen.

Sie wissen, daß ich an Albrecht schrieb, ihm die Geschichte meines Fehlers erzählte, und ihn um Verzeihung wegen meiner Beleidigung bat. Meine Pflicht befahl mir diesen Schritt. Ich zitterte zwar vor dem Gedanken, ihn wieder zu sehen, und mit ihm vereinigt zu werden; aber ich hoffte doch, durch Sorgfalt und Aufmerksamkeit auf jeden seiner Wünsche den Mangel der Liebe zu ersetzen, die ich für ihn aus meinem Herzen nicht erzwingen konnte, und durch ein äußerst vorsichtiges gefälliges Betragen mir seine Neigung wieder zu erwerben. Da ich mich eben mit diesen[117] Gedanken beschäftige, kömmt ein Brief von ihm. Eine geheime Ahndung machte, daß ich zitterte; es war als weigerte sich meine Hand das Siegel zu erbrechen. Endlich öffnete ich ihn. – Ein Scheidungsurtheil fiel mir entgegen, und ich sank sinnlos zur Erde nieder. Erschreckt durch meinen Fall, kam meine Wirthinn herauf. Sie brachte mich auf mein Bette, und es dauerte eine Stunde, ehe ich wieder zum Leben kam. Ich war noch sprachlos, und zeigte nur auf den Tisch hin, auf welchem das Papier lag.

Als ich wieder völlig zu mir selbst gekommen war, las ich den Brief:


»Madam,

Ich bedaure, daß mir der Mangel der Zeit nicht verstattete, Ihre pathetische, empfindsame Abhandlung, die wahrscheinlich aus irgend einem Roman – und ich liebe Romane dieser Art gar nicht – abgeschrieben war, völlig durchzulesen.[118] Ueberhaupt wünsche ich, daß Sie mich in Zukunft mit ähnlichen Klagliedern verschonen. Richten Sie dieselben lieber an Leute, bey denen sie besser angebracht sind als bey mir. Dieses Scheidungsurtheil giebt Ihnen dazu ungestörte Freyheit.

Madam,

Ich habe die Ehre zu seyn

Ihr

gehorsamer Diener

Albrecht


Gott, welch ein Brief! Einer feilen Buhlerinn kann man nicht schnöder schreiben. Dieß hat meinen Kräften den letzten Stoß gegeben. Ich bin ein Baum, dem man nach und nach die besten Lebenszweige abgehauen hat, und der nun verstümmelt da steht, dem Auge der Vorübergehenden ein grauenvoller Anblick. O daß doch die wohlthätige Hand des Zimmermanns[119] den verstümmelten abgelebten Stamm ganz niederhauen möchte!

Marie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 117-120.
Lizenz:
Kategorien: