Dreyundsiebzigster Brief

Sophie an Marien

[120] Unglückliche Freundinn! Wie beweine ich Ihr Schicksal! O das Ungeheuer von Mann, der die beste würdigste Frau verstieß! Wenn ich es recht bedenke, meine Marie, so ist Ihr Loos nicht so unglücklich, als es gewesen seyn würde, wenn Sie wieder zu dem Nichtswürdigen zurückgekehrt wären. Da Ihr rührender Brief, der das härteste Herz würde bewegt haben, seine unempfindliche Seele nur zum Spott reizte, so würde er auch gewiß gleichgültig gegen alle Sanftmuth und Gefälligkeit gewesen seyn, die Ihr vortreffliches Herz ihm beweisen wollte. Sie sind gewiß weit glücklicher, von ihm entfernt, als[120] bey ihm zu leben. Er würde nur Ihr Tyrann seyn. Freylich ist es hart, in den Augen der Welt eine Nichtswürdige zu scheinen, aber was fragt der edle Geist meiner Marie nach solchen Menschen, die weit unter ihr stehen? Wenn nur Ihr Herz sie rechtfertigt – und dieses Herz war ja nur schwach, nicht lasterhaft – so kann Ihre erhabne Seele ruhig über alle diese kleinen Geister wegschauen. Sie können gelassen eine Welt über sich spotten sehen, die Ihrer nicht werth ist, und sich auf einen andern Schauplatz freuen, wo die leidende Tugend Schutz findet. –

Ich werde bald nach diesem Briefe bey Ihnen seyn.

Sophie.[121]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 120-122.
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