Vierundsiebzigster Brief

Eduard an Marien

[122] Darf Ihr zärtlichster Verehrer noch einmal es wagen, an Sie zu schreiben, ewiggeliebteste Marie? Jetzt ist ja die Pflicht der Ehegattinn bey Ihnen aufgehoben, die Ihnen sonst verbot, meine Briefe anzunehmen. Ich verehrte damals Ihre hohe Tugend, die Ihnen diese Strenge auflegte; ich gehorchte Ihnen; aber der Himmel weiß, wie kummervoll seitdem meine Tage dahin flossen!

O Marie! in einer elenden Hütte, nicht weit von dir, wohnt dein treuer Eduard, glücklich genug die Luft einzuathmen, die deine Lippen aushauchen. Ich suche meinen Trost darinn, des Tags an dich zu denken, und des Nachts kniend vor deinem Fenster zu liegen, und den Schimmer deiner Nachtlampe zu sehen.[122]

Gestern sah ich dich selbst. Dein Haupt sank thränenschwer auf deine Brust, deine schönen Hände waren gen Himmel aufgehoben! Gott, wie war mir da! Mein Leben hätte ich hingegeben, um mich zu deinen Füßen werfen zu dürfen; aber meine Ehrfurcht gegen dich hielt mich zurück. Ich gieng fort, aus Furcht, daß du mich sehen, und durch meine Dreistigkeit beleidigt werden möchtest. Mit wüthendem Schmerz in der Brust kam ich in meine Wohnung; aber der Schlaf floh mein Lager. Ich sah immer nur dich und deine harmvolle Miene, und mein Herz vergaß durch den sympathetischen Antheil an deinem Leiden das seinige, und jammerte nur, dir keine Beruhigung einsprechen zu können.

Marie! Theuerste, Engel des Himmels! du hast nun keine Verbindlichkeit mehr gegen den, der sonst dein Mann war. Er selbst – ich nenne ihn nicht mit dem Namen, den sein Betragen verdiente; denn er war einst Mariens[123] Gatte – hat sich von dir getrennt. Ich flehe hier auf meinen Knien dich an, entziehe den erquickenden Anblick deiner himmlischen Gestalt nun nicht länger deinem Eduard, der dich mit so gränzenloser Liebe anbetet. Vergönne mir nur einmal, an deinem Anschauen mich zu laben. Dieser glückliche Augenblick wird reichlicher Ersatz für alle die Quaalen seyn, die ich um dich litt. Meine erschlafften Nerven, mein Geist, durch Trauern ganz unthätig gemacht, mein ganzes Ich wird durch den Gedanken, dich zu sehen, aufs neue belebt.

O Geliebte! vernichte diese süße Hoffnung nicht! Doch, das ist deiner sanften Seele nicht möglich. Gewiß nimmst du noch warmen Antheil an dem Kummer deines Eduards, und wirst gern mitleidsvoll seine Schmerzen mildern. – Ewig

dein

Eduard.[124]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 122-125.
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