Fünfundsiebzigster Brief

Sophie an Julien

[125] Dank sey es Ihnen, zärtliche Julie, daß Sie meinen Oheim mit Ihren einnehmenden Bitten beredeten, mich wieder zu meiner Freundinn reisen zu lassen, daß Sie so gütig alle Sorge für ihn unterdessen übernehmen wollten, damit doch der liebe Alte nicht durch meine Freundschaft für Marien leidet.

Es war mir schlechterdings unmöglich, einen ruhigen Augenblick in der Stadt zu haben, seitdem das Schicksal meiner Marie diese Wendung bekommen hat. Ich sah sie immer weinend und jammernd vor mir stehen, und diese Ideen liessen mir keinen Augenblick Frieden.

Ich kam den Dienstag Abends hier an. Die Freude über meine Ankunft verbreitete ein gewisses Lächeln auf ihrem Gesichte, welches mit den übrigen ausgehärmten Zügen eine äußerst rührende[125] Wirkung machte. Sie stand vom Stuhl auf, um mir entgegen zu gehen; aber es war gut, daß meine Arme sie auffiengen; denn ihre wankenden Knie vermochten nicht länger, sie zu halten. Ihr Zustand preßte mir bittre Thränen aus.

»Weinen Sie nicht um mich, Sophie, – sprach sie – Alle die Thränen, die meine Lieben um mich vergießen, fallen zentnerschwer auf mein Herz. O daß ich die Ursache alles dieses Jammers seyn mußte!«

»Aber gewiß eine unschuldige Ursache, meine Marie. Ist es Ihre Schuld, daß Albrecht nichtswürdig genug war, sich unter einem so elenden Vorwande von Ihnen zu trennen?«

»Nennen Sie ihn nicht so, Sophie. Nichtswürdig war er nie. Ich bin überzeugt, daß er nur durch böse Rathschläge verführt wurde, so zu handeln, wie er that. O Gott, was sollte ihm auch eine Gattinn, deren stärkste Neigung,[126] deren ganze Seele einem andern gewidmet war? Ach! ich bin die Strafbare, ich allein, Sophie! Warum bewachte ich nicht sorgfältiger mein Herz? Warum flehte ich nicht sogleich eifrig zu Gott um Rettung? Ich betete wohl, aber mit getheiltem Herzen. Und das will der Schöpfer nicht. Er verlangt ein reines Herz von uns, in welchem keine andern Götzen herrschen. Und ach! so war das meinige nicht. Ich klebte stärker an der Welt, an Eduard, als an meinem Gott! Schrecklicher Gedanke! O! ihr schuldlosen Zeiten meiner Jugend, wo seyd ihr hin? Damals hatte noch keine andre Leidenschaft diesen Tempel der Unschuld entweiht. Alle Kräfte meiner Seele waren nur Gott gewidmet. Ihm trug ich mit stiller kindlicher Ergebung in seinen Willen, mit innigem Vertrauen auf seine Vatergüte, meine Bitten und Leiden vor; und der Erhörung versichert, fühlte mein Herz sich gestärkt und beruhigt.[127] Wie bekümmerte mich jeder Fehler, den ich begieng! Mit unruhigem Gewissen gieng ich umher, bis ich mich im Gebet getröstet hatte. Und dann war mir so wohl! O ihr seligen Gefühle der reinsten Liebe zu Gott, werdet ihr nie wiederkehren?«

Nun stürzten Thränenströme aus ihren Augen auf ihre Brust herab. Unsre würdige Pastorinn beruhigte ihre leidende Seele, und flößte den sanften Trost der Religion ihr ein. Durch die herrlichen Worte unsers Erlösers: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken – merklich getröstet, legte sie sich schlafen, und stand den andern Morgen etwas erheiterter auf.

Eine Stunde nachher kam ein Brief von Eduard. Sie wollte ihn unerbrochen weglegen.

»Aber wer weiß, was er mir zu sagen hat?« sprach sie bald hernach. »Es wäre hart und ungerecht, ihn gar nicht hören zu wollen. Er hat[128] mich ja durch nichts beleidigt. Ich muß den Brief lesen.«

Sie öffnete ihn, und nun schwammen ihre Thränen auf das Papier hin. Schweigend gab sie ihn mir. O Julie, wie erschütterte er auch mich! Eduard liebt sie noch mit gränzenloser Zärtlichkeit. Er wohnt hier in einem Bauernhause, um nur in ihrer Nähe zu leben; er hat die Nachricht von ihrer Scheidung erfahren, und nun scheinen die alten Hoffnungen wieder bey ihm aufgewacht zu seyn. Er bittet in den rührendsten Ausdrücken nur um eine Zusammenkunft.

»Was sagt meine Sophie zu diesem Briefe?«

»Ich kann gar nichts dazu sagen, beste Marie, Ihr Herz muß ihn beantworten. Es muß bestimmen, ob Sie Eduards treue Liebe noch belohnen wollen. Ich bin geneigt, Albrechts Scheidung von Ihnen als eine Fügung des Himmels anzusehen, die vielleicht geschah, um zwey Herzen[129] wieder zu vereinigen, die für einander geschaffen zu seyn scheinen.«

»Ach Sophie, Ihre Erklärung ist zwar süß, aber ein innres Gefühl läßt mich an ihrer Richtigkeit zweifeln. Es scheint mit – beste Frau Pastorinn, sagen Sie Ihre Meynung.«

»Haben Sie durch wirkliche Untreue Albrecht Gelegenheit zur Scheidung gegeben?«

»Beste Frau, welche Frage!«

»Können Sie dieselbe mit Nein beantworten?«

»Ja, Gott sey mein Zeuge, das kann ich mit dem größten Gefühl der Wahrheit.«

»Gut! kann denn eine Scheidung rechtmäßig vor Gottes Augen seyn, zu der keine gültige Ursache da war?«

(Wie schämte ich mich jetzt meines übereilten Urtheils!)

»O Gott, nein, das ist sie nicht. Ich fühle mich jetzt lebhaft überzeugt, daß ich vor Gott[130] und meinem Herzen noch eben so gesetzmäßig Albrechts Weib bin, wie vorher. Ach! mein Herz, durch Leiden niedergebeugt, ist auch nicht mehr fähig, die Freuden der Liebe zu genießen. Ich werde bald von der Bürde des Körpers bebefreyet werden. Ich fühle, daß eine sanfte Beruhigung in mein Herz dringt; möchte sie doch auch das deinige erfüllen, o Eduard

Sie glaubte nun stark genug zu seyn, um an ihn zu schreiben. Hier lesen Sie selbst den Brief.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 125-131.
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