Siebenundsiebzigster Brief

Barthold an Eduard

[136] Aller Nachforschung ungeachtet, habe ich noch nicht entdecken können, wo Ferdinand sich aufhält. Ich bin jetzt auf einer Reise, um ihn aufzusuchen, und folge von Posthaus zu Posthaus der Spur des Briefs, den er Dir schickte. Ich bin jetzt nicht weit von der Gegend, in der du Dich aufhieltest; denn daher scheint mir der Brief gekommen zu seyn. Man spricht auch wirklich von häufigen Diebstählen, die hier geschehen, und schließt daraus, daß eine Diebesbande in der Nähe seyn müsse. Ich werde mich eifrigst bemühen,[136] ihren Aufenthalt zu entdecken; denn ich fürchte, daß unser Ferdinand verloren ist, wenn es nicht bald geschieht.

Ich habe in langer Zeit nichts von Dir gehört, Eduard. Sollte wohl ein Brief verloren gegangen seyn? Mache nur die Addresse nach D**. Von dort lasse ich meine Briefe abholen. Ich bin sehr begierig etwas von Dir zu hören. Bist Du noch immer ein Raub des Kummers? O Freund, wenn Du Dich doch mehr fassen wolltest; wenn Du Dich ernstlich bemühtest, die Last des Schmerzens von Dir abzuschütteln! Dieser Schmerz verführt Dich zu Handlungen, die Deiner ganz unwerth sind. – Du handeltest gar nicht gut, da Du den armen Henrich zum Genossen Deines Kummers machtest. Der gute Mensch hätte sich vielleicht bald beruhigt, hätte seine Liebe einem andern Mädchen gewidmet, und wäre wieder der glückliche Bauer geworden, der er sonst war. Aber so zernichtest Du sein Glück, Du[137] stärkst das Gefühl seines Leidens, welches der menschenfreundliche Geistliche zu dämpfen suchte; Du machst, daß er seinen Verlust nur noch mehr empfindet, und er ist nun vielleicht auf immer unfähig wieder das zu werden, was er vorher war. Laß ihn gehen, und die Gesellschaft seiner Bauern, die stete Arbeit, mit welcher er beschäftigt seyn wird, werden seinen Kummer von selbst mildern. Nimm Du an seine Stelle einen muntern Menschen, der Dich aufzuheitern vermag; denn das solltest Du doch billig einsehen, daß es sträflich ist, alle Mittel von sich zu stoßen, welche zu unsrer Erheiterung dienen könnten, und sich recht mit Vorsatz durch ununterbrochnes Trauern zu Grunde zu richten. Ist es eines Mannes, den Gott zu höhern Endzwecken schuf, wohl würdig, des Nachts wie ein Bettler vor der Thür seiner Geliebten zu liegen, und den Tag mit Wehklagen zu verseufzen?[138]

Ermanne Dich, Eduard, und hebe Deine Seele unter dieser schimpflichen Bürde des Kummers wiederum hervor. Du selbst fühlst die Unanständigkeit und Sträflichkeit des Selbstmords. Ist es minder sträflich, sich durch unmäßigen Kummer nach und nach aufzureiben, als mit einem male sein Leben zu endigen? Jenes Gift wirkt langsamer, aber es bleibt eben so wohl Gift, als dasjenige, dessen Wirkung schnell folgt, und der Gebrauch von beyden ist gleich unerlaubt. Vergieb mir diese Betrachtungen, lieber Eduard! Ich wünschte, daß sie nicht ganz ohne Wirkung bey Dir seyn möchten!

Dein treuer

Barthold.[139]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 136-140.
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