Achtundachtzigster Brief

Wildberg an Albrecht

[211] Ich bin Deinem Verlangen zuvorgekommen, lieber Freund! Ich war in dem Dorfe, in welchem Marie sich aufhält, habe aber sie selbst nicht gesprochen; denn sie ließ sagen: sie wolle niemand sehen, der mit dem verhaßten Albrecht in Verbindung stände. Die Nachricht von der Scheidung hat sie mit vieler Freude, und mit[211] dem Ausruf: Nun sind ja alle meine Wünsche erfüllt! – angenommen. Sie hat auch gleich darauf an Eduard geschrieben, und man glaubt, sie werde nächstens mit ihm fortreisen. Sie soll jetzt sehr gesund aussehen, und viel muntrer seyn, als sonst.

Diese Nachrichten, welche ich von einer Bauerfrau einzog, die eine Vertraute der Pastorinn ist, werden Dich, wie ich hoffe, beruhigen. Wenigstens wüßte ich nicht, wie Dich der Verlust einer Treulosen kränken könnte, die sich freut, Deiner los geworden zu seyn, bey der Du nur der Deckmantel ihrer Schande gewesen seyn würdest. Gewiß ist Deine Amalie der winselnden Marie tausendmal vorzuziehen. Sie vereinigt das beste Herz mit vielem Verstande und großer Lebhaftigkeit, und besitzt ein gewisses angenehmes Wesen, welches jedermann für sie einnimmt. Es ist wahrhaftig zu bewundern, daß ein Mädchen von so vielem Reiz Dir zwey Jahre lang[212] treu blieb, und keinem andern Liebhaber Gehör gab. Dein ungerechter Verdacht gegen sie, um dessen willen Du Dich von ihr trenntest, hat ihr viel Thränen gekostet, und doch liebte sie Dich dem ohngeachtet stets mit gleicher Stärke.

Bey meiner Seele! Du verdienst das Mädchen nicht, wenn Du noch einen Augenblick bey Dir anstehen kannst, ihre treue Liebe zu belohnen. Lebe wohl, Albrecht! Ich hoffe Dich das nächste mal ohne die melancholischen Spleen zu finden, in welchen Du Deinen vorigen Brief schriebst.

Wildberg.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 211-213.
Lizenz:
Kategorien: