Neunzigster Brief

Sophie an Julien

[215] Der nichtswürdige Wildberg mußte auch noch dazu beytragen, meine Marie zu erschüttern! Nicht befriedigt dadurch, daß er ihren Mann gegen sie aufbrachte, und ihre Ehe trennte, kömmt er auch noch an diesen einsamen Ort, um ihre Ruhe zu stören; aber dem Himmel sey Dank, daß er zu ohnmächtig dazu war. Bey seinem Anblick überfiel sie zwar ein heftiges Schrecken, aber sie beruhigte sich doch bald wieder. Sie besitzt jetzt eine Heiterkeit der Seele, welche uns allen Bewundrung auspreßt. Ihre Liebe zu Eduard lebt zwar noch immer in gleicher Stärke bey ihr, aber sie ist ein sanftes Schmachten geworden,[215] ohne die Heftigkeit, welche sie sonst hatte. Alle ihre Leidenschaften scheinen jetzt gemäßigt zu seyn, und ihre einzige Freude besteht darinn, Gutes zu thun und sich in der Besiegung ihrer selbst zu üben. So sehr indessen ihre Seele mit jedem Tage größer und erhabner zu werden scheint, so schwinden doch die Kräfte ihres Körpers immer mehr. Ach ich fürchte, daß sie nicht lange mehr bey uns seyn wird. Aber ob sie gleich dem Tode mit lebhafter Freude entgegen sieht, so widersetzt sie sich doch dem Gebrauch der Mittel nicht, die ihr Leben noch länger erhalten können.

»Das Leben, sagt sie, ist ein Geschenk, das Gott aus Güte mir gab. Ich darf diese Güte nicht mit Undank belohnen, und es ist meine Pflicht, alle die Mittel sorgfältig zu gebrauchen, die er zur Erhaltung desselben mir schenkte. Er muß seine weisen Absichten dabey haben, es mir so lange zu lassen; vielleicht will er meine Geduld prüfen; vielleicht hat er auch meine Leiden bloß darum[216] über mich verhängt, um mich wieder zu sich zu ziehen, da ich von ihm abgefallen war. Ach Sophie! ich fühle es, daß Leiden unser Herz sehr bessern. Sie lassen uns unsre Abhängigkeit von Gott stärker fühlen, lassen es uns empfinden, daß wir nur schwache Geschöpfe sind, die ohne ihn nichts vermögen. Sie stärken unsre Menschenliebe, und unser Theilnehmen an dem Elend andrer, welches im Glücke so wenig Eindruck auf uns macht. O! ich will mich bemühen, deine Güte, mein Schöpfer, zu erkennen, die vielleicht mein Schicksal besser leitete, als Menschen es dachten; und ob gleich meine lebhaften Wünsche auf jene Ewigkeit gerichtet sind, so will ich doch nicht gegen deine Fügung murren, und geduldig so lange hienieden wandeln, als es dir gefällt. – O meine Sophie, wie danke ich Gott, daß er diesen heitern Abend auf den kummervollen Tag meines Lebens folgen ließ! Wüßte ich nur, daß [217] Eduard eben diese Beruhigung fühlte, daß er kein Raub der heftigen Leidenschaft wäre! Dieser Gedanke ist das einzige, was mich noch quält.«

Ich beruhigte sie über diesen Punkt; denn ich hatte auch wirklich erfahren, daß er nicht mehr, wie sonst, wüthend im Zimmer umher gienge, und alles vernichtete, was ihm in die Hände geriethe. Sein Wirth hat ihn sonst für wahnsinnig gehalten und ist einige mal im Begriff gewesen, ihn binden zu lassen; aber jetzt ist er ganz ruhig, sitzt oft einige Stunden, und sieht immer auf eine Stelle, bemerkt es auch nicht, wenn jemand ins Zimmer kömmt, oder heraus geht. Indessen ist er doch viel sanfter, spricht auch zuweilen mit den Leuten im Hause – sonst konnte er keine Menschen leiden – besonders beschäftigt er sich mit dem kleinen Knaben seines Wirths. Alle seine Handlungen haben das Gepräge[218] einer stillen Melancholie, ohne die rasende Heftigkeit, welche er sonst zeigte. –

Sagen Sie doch meinem Onkel: es wäre mir unmöglich, wieder zur Stadt zurückzukehren. Diese Schule des Leidens ist zu lehrreich für mich, und von zu großem Vortheil für mein Herz, als daß ich sie verlassen könnte, wenn auch meine Liebe zu Marien nicht so groß wäre, als sie ist. Ich halte jeden Augenblick für verloren, den ich nicht bey ihr zubringe, und ich stehle nur die Zeit zum Schreiben, wenn sie schläft, oder auf eine andre Art beschäftigt ist, die mir keine Unterhaltung mit ihr erlaubt.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 215-219.
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