Einundneunzigster Brief

Wilhelm an Karlsheim

[219] Du hast mir so lange nicht geschrieben, liebster Freund, und Deine Briefe sind mir doch[219] jetzt noch weit interessanter, als jemals, weil ich immer hoffe, ein Wörtchen von dem Frauenzimmer darinn zu finden, welches ich mit so inniger Werthschätzung verehre. Ich bin jetzt nicht im Stande die Hälfte von den Geschäften zu verrichten, wie sonst. Immer schwebt mir Sophie auf dem Papier, und ich lasse die Feder aus der Hand fallen, um mich meinen Phantasien zu überlassen, und jede ihrer Reden, ihrer kleinsten Handlungen mir zurückzurufen. Dann ist eine Stunde mir verstrichen, ehe ichs weiß, und mein Bogen Papier ist noch so ledig als vorher.

So geht es mir mit allen Geschäften. Oft, wenn Leute bey mir sind, um mir Sachen vorzutragen, scheine ich tief nachdenkend sie anzuhören, – und wenn die Erzählung zu Ende ist, und sie mich um meine Meynung fragen, antworte ich oft so verkehrt, daß die guten Leute mich mit Erstaunen ansehen, und zuweilen scheinen ihre Mienen deutlich zu sagen, daß sie glauben,[220] es sey in meinem Gehirn nicht ganz richtig. Mit dem L'hombrespiel, welches sonst mein Lieblingszeitvertreib war, und mich in faden Gesellschaften vor der Langenweile schützte, darf ich mich gar nicht mehr abgeben, und da dieses eine Hauptbeschäftigung unsrer Zusammenkünfte ist, so spiele ich jetzt meistens den Einsiedler, zumal da unsre Gesellschaften mir jetzt mehr als jemals langweilig sind. Die schalen Witzeleyen unsrer Damen erfüllen mich mit Ekel, wenn ich den lebhaften ungekünstelten Witz meiner Sophie mit ihrem Geplapper vergleiche.

Meiner Sophie sage ich? Gott! und vielleicht bin ich ihr ganz gleichgültig, der unbedeutendste Mensch für sie! Wie glücklich würde ich mein Schicksal preisen, wenn sie nur ein Zehntheil der innigen Liebe fühlte, die ich für sie hege! Bitte doch Deine Julie, ihre Gesinnung gegen mich zu erforschen, und gieb mir Nachricht, ob ich hoffen darf. Die Zeit bis dahin wird für[221] mich die unruhigste seyn, die ich je verlebte. Säume also nicht, mir so bald möglich wieder zu schreiben.

Dein

sehnlichwartender Freund

Wilhelm.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 219-222.
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