Zweyundneunzigster Brief

Julie an Sophien

[222] Ihre Nachrichten von Marien haben mich sehr gerührt. Möchte die sanfte Dulderinn doch schon überwunden haben! Ich bin beym Lesen dieses Briefs äußerst erschüttert worden, und noch jetzt kann ich meine Thränen nicht zurückhalten, wenn ich an sie denke. Sie verdient die größte Bewundrung, und wird noch bey der Nachwelt ein Gegenstand derselben seyn! Ich verdenke es Ihnen gar nicht, liebe Sophie, daß Sie noch jeden Augenblick ihres Lebens bey ihr zuzubringen[222] wünschen, und habe Ihren Onkel – (Nein, sagte er anfangs, das Mädchen wird mir ganz melancholisch, wenn sie noch länger da bleibt –) bewogen, darein zu willigen.

Ach Sophie! Ihre Freundinn hat wohl Recht, daß sie die Schule des Leidens für die beste hält. Es ist gewiß, daß der ganze Charakter durch Leiden viel sanfter und biegsamer gemacht wird. Bey einigen wenigen nur hat es die Wirkung, sie bitter und menschenfeindlich zu machen; bey diesen aber ist auch gewiß die ganze Grundlage des Charakters nicht gut gewesen. Menschen, auch von den besten Anlagen, welche die Vergnügungen des Lebens genießen, ohne je durch Unglücksfälle gestört zu werden, werden dadurch leichtsinnig, betrachten ihre Nebenmenschen nur als Geschöpfe, geschaffen um sie zu vergnügen, und fühlen kein wahres Theilnehmen an dem Elend andrer. Es ist unangenehm, sich durch solche traurige Anblicke im Genuß des Vergnügens[223] stören zu lassen, und sie eilen wenigstens diese Eindrücke wieder wegzuschaffen, ehe sie auf ihr Herz haben wirken können.

Auch der Genuß des Glücks selbst verliert von seinem Werth bey uns, wenn er gar nicht unterbrochen wird, und wir uns also daran gewöhnen; denn es geht uns Menschen ja mit allen Dingen so. Sie ekeln uns, wenn wir sie zu häufig genießen. Wir sind mit unsern Wünschen wie die Kinder. Sie verlangen ein Spielzeug, bitten, weinen und lärmen, ehe sie es erhalten. Haben sie es einmal, so spielen sie eine kurze Zeit damit, werfen es dann in einen Winkel, und lassen es ruhig liegen, bis ein andrer es wegnehmen will; dann pflegt ihre Lust aufs neue zu erwachen. So wie man nun dem Kinde das Vergnügen an einer Sache lange erhalten kann, wenn man ihm den Genuß davon nur selten, und nicht jedesmal, wenn es darum bittet, erlaubt, so sollten wir Menschen auch uns dieses Mittels bedienen.[224]

In der Liebe, glaube ich, würde es von dem größten Nutzen seyn, und ein Mädchen würde die Neigung ihres Verehrers auch in der Ehe lange erhalten können, wenn sie klug genug wäre. Gewöhnlich aber handeln die Mädchen so, als wenn sie es recht darauf anlegten, diese Liebe in den ersten Monaten zu vernichten. Hat eine Schöne einmal einen begünstigten Liebhaber, so ist der Zärtlichkeit kein Ende. Sie bringen den ganzen Tag mit Liebkosungen zu; oft kömmt sie ihm auch wohl damit entgegen, dringt sich ihm gar auf; wenn er weggeht, so bittet sie ihn aufs dringendste, bald wieder zu kommen. Macht er einmal eine Einwendung, so zweifelt sie an seiner Liebe, räumt alle Hindernisse aus dem Wege, damit er keins zu übersteigen findet, und so ist er ihrer bey der Hochzeit – wenn er nicht früher zurücktritt – schon halb satt. Nun hat sie ihn. Der arme Mann! Er muß den ganzen Tag bey ihr seyn, beständig von Liebe sprechen, sie mit[225] Küssen beynahe ersticken, sonst bekömmt er Vorwürfe über seine Kälte.

So bringt man mit Mühe kaum die Flitterwochen hin, und beyde Theile sind einer des andern so herzlich satt, daß sie, um sich zu amüsiren, stets fremde Gesellschaft suchen müssen. Die junge Frau, nun einmal an das Liebeln gewöhnt, sehnt sich bald nach einem neuen Gegenstande. Dieser findet sich leicht. Ist er seiner Aufwartung überdrüßig: so kömmt ein andrer wieder, und so geht es immer fort. Das Hauswesen liegt ruhig. Wer wollte sich bey dem Küchenfeuer den Teint verderben? mit Schmuz von Töpfen die weißen Hände besudeln, welche die jungen Herren so gern küssen? Würde nicht der unappetitliche Geruch von der Küche ihre Nasen beleidigen?

Hat sie Kinder, so bekommen sie Ammen. Denn wer wollte wohl durch Säugen die Schönheit des Busens verderben, nach welchem durch[226] die dünne Verschleyerung so viele Blicke hinschielen? Die Kinder befinden sich ja auch bey Ammen besser. Man kann sich ja des Stillens wegen nicht einsperren, sich ja nicht den Bällen und dergleichen Lustbarkeiten, welche die Milch erhitzen und verderben, entziehen? Die Amme aber kann das, die wird ja dafür bezahlt. Eben so geht es nachher mit der Erziehung und mit allem. Und der Thörinn, die so handelte, wird dafür ein freudenleeres Alter, das sie oft unter der drückenden Bürde der Armuth hinschleppen muß. Keiner der Thoren, die sonst sie vergötterten, keine Gesellschaft, deren Seele sie ehemals zu seyn schien, in welcher man mit Freundschaft und schmeichelnden Liebkosungen sie überhäufte, würdigt sie jetzt eines Blicks. Im Leben verachtet, stirbt sie auch unbemerkt. Man trägt ihre Leiche hinaus, und niemand weint eine stille mitleidige Thräne auf ihr Grab. Auch das Schicksal ihres Mannes ist nicht viel besser. Entweder ergiebt[227] er sich ebenfalls einem ausschweifenden Leben, und sucht die Unterhaltung bey Fremden, welche er bey seiner Gattinn nicht findet, oder er härmt sich ab, und ein früher Tod ist die Folge seines stillen Grams.

Eine weit glücklichere Ehe könnte durch ein klügeres Betragen ein Mädchen sich und ihrem Gatten schaffen. Sie müßte ihren Liebhaber etwas entfernter halten, sich von ihm um einen Besuch als um eine Gefälligkeit bitten lassen, und nicht in jeder Stunde ihm den Zutritt erlauben. Sie müßte sorgen, daß auch andre Unterhaltungen als Küssen und Tändeln unter ihnen Statt fänden. Sie muß ihrem Liebhaber Achtung einzuflößen suchen. Ehrerbietung für ihre Tugend von seiner Seite, und Schamhaftigkeit von der ihrigen, sind die besten Mittel, ihre Unschuld zu sichern. Sie darf nie Zweydeutigkeiten anhören und bloß lächeln, oder nur ein scherzhaftes: Pfuy doch! sagen. Ein Frauenzimmer, das gleichgültig[228] oder gar mit Wohlgefallen Zweydeutigkeiten anhört, wird den Männern verächtlich, und wenn man einen jungen Mann in Gegenwart seiner Geliebten freye Reden führen hört, so kann man sicher schließen, daß ihr Umgang seine Reinigkeit verloren hat. Sind solche Reden nicht an das Frauenzimmer selbst gerichtet, so ist es am besten, wenn sie thut, als bemerkte sie dieselben gar nicht. Ist man aber so unverschämt, ihr selbst so etwas zu sagen, so wird ein verächtlicher Blick ohne weitere Antwort das Beste seyn. Ein Mädchen muß, dünkt mich, wenn sie merkt, daß Unanständigkeiten gesagt werden, auf eine schickliche Art das Zimmer verlassen, und in Zukunft sich mit größerer Zurückhaltung gegen den betragen, der einen solchen Ton anfieng.

Ist ein Mädchen genöthigt, viele Stunden des Tags mit ihrem Liebhaber zuzubringen, so sind wohl die besten Gegenmittel, um das Allzueinförmige ihres Umgangs zu verhüten, diese, daß[229] sie sich in Musik, Malerey, Naturgeschichte, Sprachen oder etwas dergleichen, welches er besser versteht als sie, unterrichten läßt. Oder geht dieses nicht an, so suche sie, durch gemeinschafliches Lesen, auch wohl durch Schach und andere solche Spiele, den Geist auf eine angenehme und nützliche Art zu beschäftigen. Auch im Ehestande sind diese Mittel sehr gut, um den Mann stets Geschmack an der Gesellschaft seiner Frau finden zu lassen. Und das ist doch wohl das beste eheliche Glück, wenn beyde Theile das größte Vergnügen in ihrem gegenseitigen Umgange schmecken? Da dieses aber wirklich bey dem steten Zusammenseyn unter ihnen schwer ist, so sind solche Mittel um desto nothwendiger. Sie müssen auch beym Anfang der Ehe sogleich ihre Geschäfte besorgen, damit sie nicht den Magen so sehr mit Süßigkeiten überladen, daß ihnen nachher auf immer davor ekelt.[230]

Nun wahrhaftig! der Bogen ist beynahe voll, und meine Sophie lacht gewiß über die Moralistinn. Ich will auch kein Wörtchen mehr sagen, und von einer andern Sache anfangen. Es ist zwar dazu jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, aber ich kann dem vielen Drängen nicht länger widerstehen.

Es giebt einen jungen Mann, der Sie heftig liebt, meine Freundinn, und sein Schicksal mit dem Ihrigen zu verbinden wünscht. – Rathen Sie ihn nicht? – Nicht? – Aber, liebes Kind, warum erröthen Sie denn? – Nun wenn Sie denn seinen Namen gar nicht rathen können: so muß ich ihn wohl aufs Papier schreiben. Er heißt: – – Wilhelm. Ich kenne ihn von einer sehr vorzüglichen Seite, und bemerkte bey ihm bald nach seiner Ankunft unverkennbare Zeichen von Leidenschaft für Sie. Auch Sie fällten ein günstiges Urtheil von ihm; also entstand bey mir der Wunsch, ein paar Menschen, die einer des[231] andern so werth zu seyn schienen, näher vereinigt zu sehen. Sie schlossen aus einem Ringe – zu Ihrer Beruhigung melde ich Ihnen hiemit, daß es das Portrait seiner Schwester ist – daß er versprochen wäre. Ich widersprach dieser Vermuthung nicht, weil sie mir günstig schien, um ihm Ihre Freundschaft zu verschaffen, wenn Sie sich im Punkt der Liebe sicher bey ihm glaubten.

Sie verzeihen mir doch diese unschuldige List, liebe Sophie? Sie werden am besten von seiner Liebe urtheilen können, wenn Sie beyliegenden Brief lesen, welchen er an meinen Mann schrieb. Ich versiegelte ihn, damit Sie denselben nicht, ohne vorbereitet zu seyn, lesen sollten. Wilhelm ist ein Mensch von dem edelsten Charakter, von seltner Wissenschaft und von außerordentlichem Fleiß. Von dem Angenehmen seines Umgangs können Sie selbst urtheilen. Andre Ueberredungsgründe will ich Ihnen nicht schreiben. Ihr Herz muß seine Antwort bestimmen. Schreiben[232] Sie mir doch recht bald wieder, meine Sophie. Ich sehne mich immer von unsrer Mario Nachricht zu haben, und nehme den lebhaftesten Antheil an allem, was sie betrifft. – Karlsheim, welcher sich Ihnen empfiehlt, drängt mich zu schließen. Ich schreibe also nur noch den Namen

Ihrer

Julie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 222-233.
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