Dreyundneunzigster Brief

Sophie an Julien

[233] Vielen Dank für Ihren schönen Brief, meine Julie. Er hat mich zu lehrreichen Betrachtungen veranlaßt. Nicht ganz so zufrieden aber bin ich mit dem zweyten Theil Ihres Briefs; denn in meiner jetzigen Lage wird es mir sehr schwer, einen solchen Antrag zu beantworten. Ich will Ihnen den Eindruck nicht läugnen, den Wilhelm[233] auf mich gemacht hat. Ich halte ihn für einen in allem Betracht liebenswürdigen Mann, aber es ist mir schlechterdings unmöglich, jetzt eine neue Liebe anzufangen; denn der Anblick meiner leidenden Freundinn läßt meinem Herzen die dazu erforderliche Stimmung nicht zu. Weil aber Marie selbst sowohl als Sie, meine Freundinn, so sehr vielen Antheil an dieser Sache zu nehmen scheinen: so halte ich es auch in dem Betracht für meine Pflicht, eine so bestimmte Antwort zu geben, als mir in meiner jetzigen Lage möglich ist:

Hat Wilhelm Beharrlichkeit genug, mir eine Zeit lang, deren Dauer ich nicht bestimmen kann, treu zu bleiben, ohne auf eine gewisse Entscheidung zu dringen, und ist mein Herz unterdessen wieder fähig geworden, die Freuden der Liebe zu genießen: so werde ich in ihm den Mann zu wählen glauben, mit welchem ich unter allen am glücklichsten leben zu können hoffe. Eine ausdrücklichere[234] Erklärung kann ich jetzt nicht geben, und ich traue es der Feinheit meiner Julie zu, daß sie über diesen Punkt nicht weiter in mich dringen wird. Mariens immer zunehmende Schwäche verstattet mir nicht, sie länger zu verlassen. Ich schließe also diesen Brief.

Sophie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 233-235.
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