Vierundneunzigster Brief

Julie an Sophien

[235] Ungeduld und Liebe hatten Wilhelm selbst zu uns getrieben. Er war zwar gegenwärtig, als Ihr Brief ankam, und seine Angst und Unruhe war sehr merklich. Ich wollte ihn ein Bißchen ängstigen, und legte sorglos den Brief hin, ohne ihn zu lesen, und gab vor, daß ich noch erst einige Geschäfte zu besorgen hätte. Nun bat er mich himmelhoch, beynahe kniend, doch erst den Brief zu öffnen. Während daß ich ihn las, verwandte[235] er kein Auge von mir, als glaubte er, der Inhalt wäre auch auf mein Gesicht geschrieben. ich wollte ihn noch ein wenig ängstigen, aber er machte mich so weichherzig, daß ich ihm den Brief hingab. Nun war er vor Entzückung außer sich, und gab mir so feste feurige Versichrungen seiner ewigen Liebe und Treue, als wäre ich selbst seine Geliebte gewesen. Er will in Geduld und Demuth Ihre völlige Entscheidung erwarten; denn er glaubt, Sophiens Besitz könne mit keinem Preise in der Welt zu theuer bezahlt werden. Doch, wenn ich alle seine Ausrufungen wiederholen wollte, so würde dieser Bogen nicht hinreichen, und meine Feder würde auch nicht fähig seyn, ihnen den Reiz zu geben, den sie aus seinem Munde für meine Freundinn würden gehabt haben. Er ist gewiß ein trefflicher Mann, und Sie werden die glücklichste Ehe mit ihm führen. Wenn wir nur an einem Orte wohnten! Wie viel wollte ich darum geben![236] Meine Charlotte ist jetzt verreift, und ich habe hier keine andre Freundinn, die fähig wäre, mir ihren Verlust zu ersetzen.

Die junge Räthinn L..n, ist die einzige, mit welcher ich etwas vertraut umgehen kann. Sie ist eine liebe Frau von gutem Verstand und Herzen; aber diese guten Eigenschaften werden durch einen starken Leichtsinn, und eine große Neigung zur Satire, etwas verdunkelt. Sie hat oft die schönsten witzigsten Einfälle. Es ist ihr aber nicht möglich, einen davon zu unterdrücken, sollten auch ihre liebsten Freunde, ja ihr Mann selbst, lächerlich dadurch werden. Eben diese ihre Stärke, die menschlichen Schwachheiten von der lächerlichen Seite zu zeigen, und ihre oft boshaft scheinenden Ausfälle auf andre, machen, daß sie wenig Freunde hat. Sonst ist ihr Herz vortrefflich, und nimmt keinen Theil an ihren Spöttereyen, ja sie würde gern den letzten Bissen mit dem theilen, über welchen sie in derselben[237] Minute aufs beißendste spottet. Wenn sie den Umgang mit meiner Charlotte dazu nützt, diese Spottsucht ein wenig zu mäßigen, so wird sie eine liebenswürdige Frau werden.

Leben Sie wohl, meine Sophie! Wilhelm untersteht sich nicht an Sie zu schreiben, wünschte aber sehnlich, es wagen zu dürfen. Es ist mir unmöglich, Ihnen alles das bekannt zu machen, was er an Sie mir auftrug. Wollen Sie es also durchaus wissen: so müssen Sie ihm die Erlaubniß geben, es Ihnen selbst zu sagen. Bis dahin mag Ihr Scharfsinn es errathen.

Julie.

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784, S. 235-238.
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