Ballade in G-moll

[91] Nach einer wilden, wüstdurchzechten Nacht,

Schon ränderte das erste Rot die Wolken,

Stahl ich mich aus dem Saale, die Genossen

Im Streite, lachend, lallend, unter'm Tische,

Im weinerlichen Elend, schwer betrunken

Zurück in ihrem Durcheinander lassend.

Doch eh' ich ging, bat einen meiner Runde

Ich mitzugehn, um frische Luft zu schöpfen.

Im Nebenzimmer, das wir nun durchschritten,

Stand ein Klavier, und wie dort hingezogen,

Setzt an die Tasten sich mein junger Freund

Und spielte die Ballade G-moll Chopins.

Und wie vom Geist des Weines nur befeuert,

Begeistert nur zu höherem Seelenflug,

Erwuchs zu mächtigem Wesen jenes Stück.

Nie hatt' ich herrlicher sie spielen hören.

Ich unterdessen schlich zum Fenster hin

Und schlug die Flügel auf, soweit ich konnte.

Der Sommermorgen friedet keusch vor mir,

Das Gras, die Blumen schlafen noch im Tau,

Kein Lüftchen regte sich, kein Vogel zwitschert.[92]

Doch da, in dieser leidenlosen Ruhe,

Entdeckt' an einem schmächtigen Ahornstamm

Ein blasses Mädchen ich. Die rechte Schläfe

Lehnt an den Baum; und aus den großen Augen

Tropft Thrän' auf Thräne langsam auf die Hände,

Die schwach das Taschentüchlein drehn und zupfen

Und zitternd auseinanderzerren ...


Quelle:
Detlev von Liliencron: Der Haidegänger und andere Gedichte, Leipzig 1890, S. 91-93.
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