An Hugo Wolf

[93] Erinnerst du dich der Tage:

Hinter dir saßen

Conrad, der Hüne, und ich.

Du sangst uns

Deine 53,

Drei–und–fünf–zig!

Mörike-Lieder vor

Und deine ungezählten Wunderweisen

Aus Goethe und Eichendorff.

Wie war das Alles neu!

Zum Erstarren neu!

Vorn im Mörike-Heft,

Auf erster Seite,

Hattest du, Bescheidener,

Des Dichters Bild verehrend aufgestellt.

Welcher Tonsetzer that je so?


Und während du glühend sangst,

Gingen draußen die Deutschen vorüber.[94]

Sie trugen in ihren Taschen

Billete zu »Mamsell Nitouche«.

Und die Schamröte flog mir in's Gesicht

Für unsre Landsleute,

Daß sie dir nicht horchten;

Daß sie ihren großen, lieben

Dichter Mörike nicht kennen.


Wir erhoben uns.

Auf der Straße

Nahm Conrad, der Hüne, dich

Auf seine Athletenschultern,

Und trug dich durch die Menge,

Wie einst der heilige Christoph das Jesulein

Durch das tosende Wildwasser brachte.

Einer Spielzeugtändlerin

Kauft' ich ein Fähnchen ab.

Und das Fähnchen wuchs schnell

Zur mächtigen prunkenden Fahne.

Einem Flötenbläser winkt' ich,

Der einsam im Kinderkreise blies;

Und er kam und ging mit:

Duidldidum, duidldidum.

Einem Zinkenisten winkt' ich

Aus einer Gassenmusik;

Und er kam und ging mit:

Tatara ta, Tatara ta.

Einem Beckenschläger winkt' ich,

Der einem Bärenzeiger gesellt stand;

Und er kam und ging mit:

Dschingdada, Dschingdada.

Die drei machten Bockssprünge, während sie spielten,

Und tanzten wie trunkene Derwische.[95]

Vor dem Zuge schwang ich

Die mächtige Prunkfahne hin und her,

Und ich rief:

Platz da, Platz da, Gesindel,

Ein junger Germanenkönig kommt,

Ein König der neuen Kunst!

Platz da, Platz da, Gesindel,

Ein König kommt!

Und die Deutschen

Griffen entsetzt in ihre Taschen

Und fühlten nach den Billeten

Zu »Mamsell Nitouche«.

Und sie rannten schleunig

Zu »Mamsell Nitouche«.


10. 11. 12. X. 1890.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Der Haidegänger und andere Gedichte, Leipzig 1890, S. 93-96.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon