106. Der Haun-Müller.

[68] Vor langer Zeit stand einmal eine Mühle an der Haun, einem Flüßchen, das an Hünfeld vorbeifließt und bei Hersfeld in[68] die Fulda fällt. Jedes Jahr rissen die Fluthen das Wehr entzwei und der Müller hatte fort und fort zu bauen und zu bessern. Eines Tages stand der Müller betrübt am Ufer und sann darüber nach, wie er dem Wehr eine Festigkeit gäbe, welche auch bei großem Wasser widerstände. Da trat ein Mann zu ihm, forschte nach der Ursache seines Kummers und sagte, nachdem der Müller ihm diese vertraut: Ich weiß ein Mittel, das Wehr so fest zu bauen, daß keine Fluth es zerreißen kann. Ihr müßt in den Grund einen lebendigen Knaben legen und darüberhin bauen. Den Knaben schaff ich euch um einen billigen Preis. Den Müller überlief es eiskalt bei diesen Worten; das Mittel sollte aber untrüglich sein und da er durch die jährliche Beschädigung der Mühle um all' seinen Wohlstand gekommen war und sich in großer Bedrängniß befand, so ließ er sich überreden, auf den Vorschlag einzugehen. Der Mann brachte den Knaben, – es war sein eigener – empfing seinen Lohn dafür und half dem Müller beim Bau. Diesen aber erfaßte die Reue ob der begangenen Unthat und er starb kurze Zeit nachher. Doch ward das Grab ihm keine Ruhestätte; Nachts geht er am Ufer auf und ab und lockt den Wanderer in den Fluß. Jedes Jahr muß der Müller seine Beute haben. Der Erste, der ihm zum Opfer fiel, war jener Mann, welcher ihm den Knaben verkauft hatte.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXVIII68-LXIX69.
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