111. Die Wassermenschen.

[70] Eine eigenthümliche Erscheinung bietet im Schmalkaldischen das öftere Vorkommen ganz oder theilweise verkümmerter Menschen (Kretinen) dar, welche man hier Wasserkinder, Wassermenschen nennt. Im Volke geht darüber folgende Sage um:

In der Tiefe der Erde wohnt ein Geschlecht von äußerst häßlichen, aber den Menschen ähnlichen Geschöpfen, die nur selten an die Oberfläche kommen. Ein tiefer Teich ist ihr Aus- und Eingang, daher haben sie den Namen Wassermenschen. Sie begeben sich besonders deswegen auf die Oberfläche der Erde, um den Müttern, welche allzufest schlafen oder die Kinder allein liegen lassen, die schönsten Säuglinge zu rauben. Für die schönen Kinder legen die Wassermenschen ihre eigenen häßlichen hin und umgeben sie auf einige Zeit mit einem Zauber, so daß die Mutter erst spät die Verwechselung wahrnimmt. Diese ist verbunden, mit gleicher Sorgfalt sich des Fremdlings anzunehmen, wenn sie das eigene Kind wiedererlangen will, da die Wassermenschen, wenn sie sehen, daß ihre Nachkommen auf der Oberwelt gedeihen und schöner werden, aus Liebe zu ihrem Geschlechte sich zu einem abermaligen Umtausche verstehen. Daraus erklärt sich der Name »Wasserkind«. Noch bis auf den heutigen Tag werden des Nachts die Thüren der Wochenstuben mit einem Schurzband, als einem wirksamen Talisman, zugebunden und man vermeidet es sorgfältig, ein neugebornes Kind bei Nacht allein zu lassen.

Danz u. Fuchs, phys. medic. Topogr. d. Kreises Schmalkalden 212.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXX70-LXXI71.
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