127. Die weiße Jungfrau auf der Boyneburg.

[79] Ein armer Schäfer, der all' sein Hab und Gut verloren hatte und dem am andern Tage sein letztes sollte ausgepfändet werden, weidete an der Boyneburg, zwischen Sontra und Netra, deren Trümmer man von der Eisenacher Straße aus erblickt, und sah im Sonnenschein eine weiße Jungfrau am Schloßthore sitzen. Sie hatte ein weißes Tuch vor sich ausgebreitet; darauf lagen Knotten, die an der Sonne aufklinken sollten. Der Schäfer verwunderte sich, an dem einsamen Orte eine Jungfrau zu finden, trat zu ihr hin und sprach: »Ei, was schöne Knotten!« nahm ein paar in die Hand, besah sie und legte sie wieder hin. Die Jungfrau sah ihn freundlich und doch traurig an, antwortete aber nichts; da ward dem Schäfer angst und bange, so daß er fortging ohne sich umzusehen und die Herde nach Hause trieb. Es waren ihm aber ein paar Knotten, als er darin gestanden, neben in die Schuh gefallen, die drückten ihn auf dem Heimwege; er setzte sich also, zog den Schuh ab und wollte sie herauswerfen und wie er hineingriff – fielen ihm fünf oder sechs Goldkörner in die Hand. Der Schäfer eilte zur Boyneburg zurück, aber die weiße Jungfrau war sammt den Knotten verschwunden; doch konnte er sich mit dem Golde schuldenfrei machen und seinen Haushalt wieder einrichten.

Br. Grimm d. S. 10.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXIX79-LXXX80.
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